nichts als die wahrheit
Kühlkammer gehockt hatte, eingesperrt; in der Erwartung, ihren Mörder zu sehen, sollte die Tür jemals wieder aufgehen.
Sie erhob sich vom schmalen Bett, das sich tagsüber in eine Couch verwandeln ließ, und ging auf nackten Füßen in die Küche, wo sie die Kaffeemaschine einschaltete. Im Bad klatschte sie sich mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht und sah sich dann lange im Spiegel an.
Blaß war sie, und Ringe unter den Augen hatte sie auch. Sie blies die Backen auf, verzog den Mund zu einem künstlichen Grinsen, kniff die Augen zusammen und streckte sich schließlich die Zunge heraus. »Nicht irremachen lassen«, empfahl sie ihrem Spiegelbild, das tapfer, aber lustlos zurücknickte.
Den Becher mit dem Milchkaffee nahm sie mit ans Fenster. Das rötliche Licht des Septembermorgens streichelte die Kuppel des Reichstagsgebäudes. Sie zählte die blauen, gelben und rostroten Kräne, die um das gläserne Ei standen wie Störche um einen Froschteich. Beim ersten Mal zählte sie fünfzehn, beim zweiten Mal dreizehn. Beim dritten Mal verzählte sie sich gleich zu Anfang. Es war ein wunderbares Kinderspiel. Aber es riß sie nicht heraus aus ihren Erinnerungen, die ihr die Brust zuzuschnüren begannen.
Kurz entschlossen zog sie sich bequeme Hosen, Sweatshirt und Jackett an und ging ins Büro. Arbeit machte zwar nicht glücklich, lenkte aber ab.
Das schmiedeeiserne Gitter vor der Eingangstür war verschlossen. Unschlüssig stand Anne davor. Über ihr ertönte ein leises Summen. Als sie aufblickte, schwenkte eine Kamera langsam über ihr hin und her. Sie fühlte sich beobachtet und abgelichtet, als ob sie eine potentielle Einbrecherin wäre. Anne schüttelte das Gefühl ab, daß sie ja eigentlich hier wirklich nichts verloren hatte, daß sie ein Eindringling war, von niemandem gewollt und erwünscht, und hielt statt dessen ihren Ausweis in die Linse. Nach einer langen Bedenkpause schwang das Gitter auf.
Ich weiß, daß es Sonntag ist, dachte sie, als die Pförtnerin den Blick von der Zeitung hob, bedeutungsvoll auf die Armbanduhr schaute und sie erst dann eines Blickes würdigte. Manchmal muß das Volk eben auch am Wochenende vertreten werden. Sie lächelte die streng blickende Person an und ging auf die Schwingtür vor der Wandelhalle zu. Im Vorübergehen registrierte sie die engbedruckten grauen Blätter, die mit einem Streifen Tesafilm an den Türen befestigt waren und die hochwehten, als sie die Tür öffnete.
Im Treppenhaus war ihr kühl nach der warmen Septembersonne draußen. Der unbehaglich kalte Hauch ließ sie spüren, wie alt das Haus wirklich war. Sie lief die breiten, ausgetretenen Treppen schneller hoch.
Auch oben an der Tür zu ihrem Büro, am frisch aufgetragenen grauen Lack, klebte eines der Flugblätter. Verärgert riß sie es ab und nahm es mit in ihr Zimmer. Sie ließ sich in den Schreibtischsessel fallen und begann zu lesen.
»Bundesrepublik Deutschland oder Germania?« Schon die Schlagzeile machte klar, was seine Autoren nicht wollten: Germania war in Fraktur geschrieben. Das assoziierte man mit Nazideutschland. Am Fuß der Lettern fanden sich schwarze Pfützen – das bedeutete in der internationalen Sprache der Propaganda Blut, also auch nichts Gutes. Fast hätte sie das Blatt wieder weggelegt. Aber dann blieb ihr Blick am letzten Satz hängen: »Die Bundesregierung will die Geschichte entsorgen!«
Wie sollte das gehen? Anne fing von vorn an. »Die Bundesregierung bezieht Nazigebäude«, lautete die Unterschlagzeile. »Der Finanzminister kriecht bei Göring unter!« Tatsächlich bezog das Finanzministerium das ehemalige Luftfahrtministerum Hermann Görings. »Der Arbeitsminister als Nachfahre von Goebbels!« Richtig war daran nur, daß sich das Arbeitsministerium in den Gebäuden befand, in denen früher das Propagandaministerium Joseph Goebbels untergebracht war. »Der Außenminister sitzt auf dem Schoß von Hjalmar Schacht!« Die Sätze waren auf Empörung kalkuliert. Das Auswärtige Amt besetzte das Gebäude, das bis zum Ende des Nationalsozialismus der ehemaligen Reichsbank gehörte, soweit war das richtig. Aber nach 1945 tagten hier Zentralkomitee und Politbüro, Honecker und Krenz, und wie sie alle hießen, bis zum verdienten Untergang der DDR.
Man konnte in Berlin der Vergangenheit nicht entrinnen – und die Verfasser des Flugblatts erwähnten noch nicht einmal die halbe Geschichte. Erst Wilhelm Zwo, dann die Nazis, dann die DDR – auch dieses Haus hier hatte alle diese
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