nichts als die wahrheit
schienen just heute massenhaft ihren Urlaub anzutreten. Sie floh an die frische Luft und ins nächste Taxi. Im Fond lehnte sie sich in die Polster und ließ Bäume und Hausboote am Hohenzollernkanal und die hochherrschaftlichen Mietshäuser an der Spree an sich vorbeitragen.
Am Tagungsort angekommen, platzte sie in die erste Kaffeepause des Vormittags hinein. Sie hätte den kahlköpfigen Hünen nicht wiedererkannt, wenn er nicht zielstrebig auf sie zugekommen wäre.
Der Mann, der trotz seines bulligen Körpers leichtfüßig wirkte, grinste ihr ins wahrscheinlich ziemlich verwirrte Gesicht. »Karen! Karen Stark! Erzähl mir nicht, daß du dich nicht mehr an mich erinnerst!«
Sie schüttelte matt den Kopf und hoffte auf baldige Aufklärung.
»Frankfurt, Hörsaal IV, Vorlesung von Buddeberg über ›Grundlagen der Rechtsphilosophie‹ – du hast gegähnt, ich hab’ gegähnt, und dann sind wir beide rausgegangen und für den Rest des Tages an den Baggersee gefahren.« Der Hüne verbeugte sich elegant.
»Frank Sonnemann, damals viertes Semester Soziologie, heute Berliner Redaktionsleiter des ›Journal‹.«
Karen hoffte, daß sie nicht allzu erstaunt aussah. Sie hatte seine Karriere verfolgt – Sonnemann galt als einer der einflußreichsten Journalisten der Republik, mit den besten Beziehungen zur Regierung. Aber sie erinnerte sich nicht, jemals ein Bild von ihm gesehen zu haben. Während ihrer Studienzeit war Frank Sonnemann ein aufgeschossener Knabe gewesen mit weichen dunklen Locken und einem ausgeprägten Gefühl fürs Gute und Schöne. Der hier hatte kaum noch Haare und sah aus, als ob er eine ganze Maß Münchner Oktoberfestbier ex trinken könne. Dann fing sie an zu lachen. Sie wurden offenbar alle nicht jünger.
»Und wie hast du mich wiedererkannt?«
Sonnemann grinste zurück. »Du bist unverwechselbar. Außerdem habe ich dich im Fernsehen gesehen. Auf der Pressekonferenz nach der famosen Seebestattung.«
Karens Lächeln wurde etwas dünner. Sie erinnerte sich ungern an den Auftritt. Lachhaft, was die Journaille daraus gemacht hatte, aus den paar Knochen, die sie hatten einäschern und in die Ostsee werfen lassen – vor Kiel, auf Kosten des Steuerzahlers, für 5600 Mark. Hätten sie das Skelett vielleicht noch länger aufheben sollen? Es hatte schließlich bereits 54 Jahre lang herumgelegen, erst 27 Jahre unter der Erde, am Lehrter Bahnhof in Berlin, zuletzt weitere 27 Jahre in einer Plastiktüte in der Asservatenkammer der Frankfurter Staatsanwaltschaft. Man hatte einfach nicht gewußt, wohin mit den Überbleibseln.
Den Resten von Hitlers Vize Martin Bormann.
Was insofern ein Glück gewesen war, als man vor ein paar Jahren mit Hilfe der Knochen letzte Zweifel daran hatte ausräumen können, daß der Naziverbrecher wirklich tot war. Nachdem die DNA-Analyse geklärt hatte, daß das Skelett Bormann gehörte und daß Zeugen unglaubhaft waren, die ihn irgendwo in Argentinien auf einer Veranda hatten Gin Tonic trinken sehen, hatten sie das Vernünftige getan und sich seiner entledigt.
»Hätten wir die Knochen vielleicht in die Restmülltonne stopfen sollen? Oder dachtest du an ein Staatsbegräbnis?«
Sonnemann legte ihr begütigend die Hand auf den Arm. »Ich freue mich, dich wiederzusehen. Das ist alles.«
Das klang nicht nach Floskel. Und sie freute sich auch. Sie redeten aufeinander ein, bis der Gong ertönte. Erst als er ihr von Lilly E. Meier und der preisgekrönten Geschichte von Burschi, dem Schäferhund, erzählte, fiel ihr Alexander Bunge wieder ein – und die Meldung im »Journal«.
»Ach – Frank …« Er hatte ihr mit großer Geste den Arm gereicht.
»Es gab da vor einigen Wochen eine Meldung in eurem Blatt – über Alexander Bunge. Mitglied des Bundestags.«
Er guckte sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Fragend. Und sagte dann gedehnt: »Ach – das …«
»Woher hattet ihr die Information?«
»Das – also … Ich glaube mich zu erinnern, daß das ursprünglich eine dpa-Meldung war. Schiffer hat daraus einen Mehrzeiler getextet. Tut einem natürlich leid, wenn sich einer gleich umbringt, nur weil …«
»Nur weil auffliegt, daß er auf Kinderpornographie steht?« Sonnemann mußte gemerkt haben, wie empörend sie das fand – beides. Sowohl die Vorliebe für mißbrauchte Kinder als auch seine Geringschätzung des Skandals.
»Nein, um Himmels willen, so meine ich das natürlich nicht. Aber er hätte sich zum Sachverhalt doch wenigstens äußern können …«
»Du meinst,
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