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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Epochen der deutschen Geschichte überstanden. Anne ging zum Fenster. Der große Block beherbergte einst Teile der Staatsanwaltschaft der DDR. Hatte er auch Schauprozesse gesehen? Politische Gefangene? Gewalt und Brutalität?
    Plötzlich war ihr kalt. »Die Bundesregierung will die Geschichte entsorgen«? Keine Chance. Es gab kein Entrinnen. Wo heute das Kanzleramt entstand, hatte der Mittelpunkt des neuen »Germania« stehen, hatte sich die Kuppel der »Halle des Volkes« erheben sollen, in der nach dem Willen des Führers und seines Architekten Albert Speer 180000 Menschen hätten Platz finden sollen. Der Krieg beendete all diese Pläne. Doch noch immer konnte man den Betonklotz besichtigen, mit dem Speer einst die Belastbarkeit des märkischen Bodens getestet hatte. Er war metertief in den Boden gesunken, aber er hatte allen Beseitigungsversuchen widerstanden.
    Und so war es auch mit der Geschichte. Ihre Spuren waren gegenwärtig, sie würden alle Versuche überleben, zu vergessen, zu verdrängen, zu verbergen, weißzuwaschen. Was wollte man mehr? Anne knüllte das Flugblatt zusammen und warf es in den Papierkorb.
    Dann griff sie zur Hauspost, die auf dem Schreibtisch lag. Oben auf dem Stapel lag ein Blatt mit dem Ausdruck einer dpa-Meldung. »Bauprojekt des Bundes gescheitert?« lautete die Überschrift. Die Bebauung eines Areals in der Nähe des Reichstags, in den ehemaligen Ministergärten, Bauträger war der Bundestag, komme nicht voran. Unbestätigten Gerüchten zufolge sei man bei Ausschachtungsarbeiten auf etwas gestoßen, das mittlerweile die Denkmalschutzbehörde auf den Plan gerufen habe. Der voraussichtliche Schaden durch den Baustopp gehe in Millionenhöhe.
    Da war sie wieder, die Geschichte. Anne legte das Blatt beiseite und versuchte sich auf die restliche Post zu konzentrieren. Aber es drängten sich andere Bilder vor ihr inneres Auge – Bilder von Ereignissen, die sie nie gesehen hatte und die ihr vielleicht deshalb um so plastischer erschienen. Bilder von den letzten Tagen des Führers. Von dem durchgedrehten Feldherrn und seiner grauen Gefolgschaft, untergetaucht in kilometerlangen, labyrinthischen Gängen unter den Straßen und Häusern der Stadt, die sich im Feuer der Gegner in Schutthalden verwandelten.
    Sie stieß sich mit beiden Händen vom Schreibtisch ab, bis der Stuhl fast an den Aktenschrank hinter ihr geprallt wäre, und stand abrupt auf.
    Auf der großen Karte der Baustellen Berlins, die an der Wand hing, suchte sie nach dem Areal. Es mußte sich um das brachliegende Gelände handeln, auf das sie damals vom Reichstag herabgeguckt hatten. »In den Ministergärten« hieß das Gebiet zwischen Alter und Neuer Reichskanzlei. Wie hatte die Stimme hinter ihr gesagt? »Dort endete das ›Dritte Reich‹ in Blut und Flammen.« Sie fuhr mit dem Finger die Landkarte entlang. Das Areal lag da, wo bis 1989 die Mauer gestanden hatte – gesichert vom Todesstreifen. Es war jahrzehntelang unberührt geblieben. Was Wunder, das man dort nun etwas fand.
    Wieder lief es ihr eisig den Rücken hinunter. Geschichte vergessen, Erinnerung auslöschen? Wer das bloß konnte! Sie fühlte sich ganz im Gegenteil in einem Sog der Erinnerung, der sie nicht mehr losließ und herabzuziehen schien – unter die Stadt bis in den märkischen Sand, in dem erst am Ende aller Tage alles versinken würde …
    Sie holte das Jackett wieder aus dem Schrank, stürmte aus dem Büro und lief die Treppe hinunter. Die Pförtnerin las noch immer in der »Bild am Sonntag« – oder war sie eingeschlafen? Sie guckte nicht hoch, als Anne durch die große Tür rannte, in die warme Septemberluft draußen. Nach kurzem Zögern lief sie nach links, Richtung Brandenburger Tor. Erst, als sie Unter den Linden ankam, verlangsamte sie das Tempo. In den ersten der roten Doppeldeckerbusse stieg sie ein.
    Auf dem Oberdeck war noch Platz in der vordersten Reihe. Neben ihr saß ein knutschendes Pärchen, hinter ihr redeten drei Touristen, die nach Asien aussahen, unermüdlich aufeinander ein. Als der Bus nach zehn Minuten losfuhr, begann die Lautsprecheranlage zu rauschen und zu knacken. Die Stimme, die eine Fahrt durch die Geschichte Berlins ankündigte, klang weiblich und jung. Anne lehnte sich zurück. Wenn die Geschichte erst auf der Ebene touristischer Vergnügungen angelangt war, konnte es so schlimm nicht mehr kommen.
    Nach einer halben Stunde Fahrt sah sie das anders. Die gleichbleibend heitere Stimme der Fremdenführerin minderte den

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