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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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dem Dorf hinausfuhr, heulte es von allen Seiten, je weiter entfernt, desto melancholischer. In Waldburg sah er sie in den roten Bus springen, die Männer der Freiwilligen Feuerwehr, unübersehbar gut gelaunt und ohne die geringste Hast. Kein anderer Verein verfügte über eine derart spektakuläre Weise, seinen Stammtisch anzukündigen.
    »Und die Löschbereitschaft?« hatte er irgendwann unschuldig gefragt, als es wieder zum Kollektivbesäufnis heulte.
    »Voll gegeben!« Willi hatte ihm beruhigend die Hand auf den Arm gelegt und gegrinst dabei. »Zum Spritzen muß man ja nicht trocken sein!«
    Als Bremer auf der langgezogenen geraden Strecke hinter Waldburg in den höchsten Gang schaltete, wurde das scharrende Geräusch lauter, das ihm schon vor zwei Kilometern aufgefallen war. Er fluchte leise. Es mußte der Umwerfer sein, der an der Kette schabte. Er haßte dieses Geräusch – es war fast so schlimm wie ein ächzender Sattel oder quietschende Bremsen. Ein gutes Fahrrad hatte lautlos durch Berg und Tal zu gleiten.
    Er schaltete einen Gang tiefer, stellte das Treten ein und schwebte die langgestreckte Abfahrt hinunter, den sich gemächlich verdichtenden Nebelschleiern entgegen, die aus der Talsenke aufstiegen und sich vor den Sonnenuntergang zu schieben begannen. Noch leuchtete der Horizont in dramatischem Rot, und der Wind tätschelte sein brennendes Gesicht, als ob er ihn über den Abschied vom Sommer hinwegtrösten wollte.
    Oder über die Rasur heute morgen, die zweite schon in dieser Woche, einmal zuviel also – nur weil Karen bei seinem letzten Besuch in Frankfurt glaubte darauf hinweisen zu müssen, daß Männer mit Sechstagebart out wären. Wahrscheinlich fürchtete sie wieder den schlechten Einfluß des Landlebens. Geschenkt – aber auch Städter können verspießern, dachte er und wich der goldbraunen Raupe aus, die sich auf den langen, lebensgefährlichen Weg über die Straße gemacht hatte.
    Dann war er unten und rauschte, vom eigenen Tempo getragen, gleich wieder hoch, durch das Wäldchen, am Weiherhof vorbei, wo er wieder in die Pedale trat. Über das nackte Feld zu seiner Rechten schritten Dutzende von taubengroßen Vögeln mit weißen Lätzchen, die mit dem Kopf hin und her ruckten, auf dem sie eine Art Krönchen trugen. Ein solches Tier konnte eigentlich nur Wiedehopf heißen.
    Auf der Koppel kurz hinter der Kurve, hinter der die Straße wieder leicht anstieg, flogen drei schlanke braune Falken gewagte Pirouetten – wie Halbstarke in einer italienischen Kleinstadt, die sich feierabends ihre Motorräder vorführen.
    Die untergehende Sonne ließ Wiesen und Wälder rosig leuchten, und die Luft brummte vor lauten Zeichen der Lebenslust – Tschirpen, Jubeln und Schmettern. Als ob alle noch einmal tief Luft holten, bevor es bergab ging mit dem Jahr, vor den ersten bunten Blättern. Den ersten Herbststürmen. Dem ersten Frost.
    Alles war so wie immer, redete Bremer sich ein. Das Brüllen der Rasenmäher und Kreischen der Motorsägen, mit denen die Männer den Holzvorrat für den Winter handlich machten. Das Lieht und die Luft und der Duft von Pflaumenkuchen, der ihn anwehte, als er in Rottbergen einfuhr. Und die Frauen, die vor dem Backhaus die Kuchenbleche auf Handkarren und Fahrradgepäckträger verteilten – für die Männer, die sie nach Hause schafften.
    Alles so wie immer. Und so würde es bleiben. Auch wenn in letzter Zeit immer häufiger die Parzellen in der Feldflur brachlagen, wo früher die Bauersfrauen Salat und Kohl, Kartoffeln und Zwiebeln gezogen hatten. Er war den Anblick gewohnt gewesen, den Anblick der hochaufgereckten Hinterteile in den geblümten Kittelschürzen, während die Frauen jäteten und hackten. Heute hockte nur ’s Marieche einsam und allein zwischen ihren Kartoffeln, dem Wirsing und dem Rosenkohl.
    »Moije!« Bremer grüßte den alten Herrn auf dem Fahrrad, der ihm entgegenkam. Der grüßte nach einer Schrecksekunde breit grinsend zurück. »Morgen!« sagten nur Fremde. Mit »Moije« gehörte man dazu. Paul hatte Jahre gebraucht, bis er endlich gelernt hatte, so zu grüßen, wie es alle hier taten. Es wirkte wie Simsalabim oder andere Zaubersprüche.
    Dann war er wieder aus dem Dorf hinaus, dem langen Anstieg nach Streitbach entgegen. Wie unterschiedlich Kühe aussehen können, dachte er, als ein Tier auf der Koppel rechterhand ihn anmöhte. Die hier hatte lichtgraues Fell, eine weiße Gesichtsmaske und ein rabenschwarzes Maul. Sie sah wie ein Kunstwerk aus.
    Beckers

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