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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Wange geritzt hatten? Stimmt sie, die Geschichte von der türkischen Familie, die von ihren gutbürgerlichen Nachbarn aus der Wohnung gemobbt worden ist? Und was ist mit all den anderen Menschen, denen Unrecht widerfuhr, das der Welt verborgen geblieben wäre, wenn Lilly E. Meier es nicht beherzt aufgedeckt hätte?
    Zettel hatte offenbar recht mit dem, was er über sie aufgeschrieben hatte – und das verschlug Hans Becker die Sprache.
    »Es gibt eine höhere Wahrheit.« Lilly zielte mit dem zusammengeknüllten Taschentuch auf seinen Papierkorb.
    »Höhere« Wahrheit? Kalter Kaffee, dachte Hans. Unsere Pflicht ist die Wahrheit, die einfache, schlichte, niedere Wahrheit.
    »Etwas, das uns aufrüttelt, damit wir begreifen. Damit wir etwas tun. Damit sich das Schreckliche nicht wiederholt.« Sie nickte noch immer, sich selbst bestätigend. Aber ihr Mund war ein schmaler Strich geworden.
    Ihr Pathos erschütterte ihn. Glaubte sie an das, was sie da erzählte? Er versuchte in ihrem Gesicht zu lesen. Sie glaubte an den ganzen Käse. Herrgottnochmal, sie glaubte daran! Wußte sie denn nicht, daß sie das Kopf und Kragen kosten konnte?
    Er erinnerte sich noch gut an den Fall der amerikanischen Journalistin, die mit der Geschichte eines drogensüchtigen Zwölfjährigen den Pulitzerpreis gewonnen hatte. Ein mißtrauischer Kollege war der Geschichte nachgegangen, die sich als rein erfunden erwies. Der Preis wurde der jungen Frau aberkannt – man hatte nie mehr von ihr gehört.
    Es war dunkel geworden. Draußen war eine graue Wolkenwand aufgezogen. Die Temperatur in Zettels Zimmer schien um einige Grade gefallen zu sein. Hans Becker wagte nicht, Lilly ins Gesicht zu sehen. Er fürchtete, daß sie seine Enttäuschung sehen könnte – und etwas von der Verachtung, die sich in den letzten Minuten hinzugesellt hatte.
    »Ich werde diese Wahrheit immer verteidigen«, sagte sie in die Stille hinein. »Gegen jeden Widerstand. Und wenn ich daran sterbe.« Ihre Stimme war leise geworden. Und für einen Moment glaubte Hans Becker, er habe einen Unterton mitschwingen gehört – einen Hauch von Härte. Kälte. Größenwahn?
    Dann stand sie auf, schien den Ernst ihres Gesprächs von sich abzuschütteln und lächelte ihn an. »Du bist der einzige Anständige hier, Hansi.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, drückte sie kurz und ging lautlos aus dem Raum.
    Becker lehnte sich aufatmend in Zettels Schreibtischsessel zurück. Er fühlte sich – überwältigt. Auf seltsame Weise emotional erpreßt – von seiner Verehrung für sie. Lilly E. Meier konnte Worte machen, wie man sie selten zu lesen kriegte. Nun stellte sich heraus, daß das meiste davon nichts als Worte waren. Reine Phantasie. Heiße Luft.
    Die Enttäuschung spülte einen bitteren Geschmack in seinen Mund.
    »Sie hat wenigstens ein Gewissen!« insistierte eine innere Stimme, die sich auf Lillys Seite schlug.
    Na wunderbar, dachte Hans Becker. Ein Gewissen, das gewissenlos macht.

12
    Es war ihr gar nicht aufgefallen, daß der Himmel sich langsam zuzog. Als sie aus der U-Bahnstation Senefelder Platz kam, war es draußen dunkel. Auf dem Weg zu Zettels Haus stemmte sie sich gegen bissige Gewitterböen. Die ersten Tropfen trafen sie, als sie in die Kollwitzstraße einbog. Sie war ziemlich naß, als sie die Haustür aufschloß und der Hund sie überschwenglich begrüßte.
    Das Gewitter näherte sich mit rasender Geschwindigkeit. Amber japste auf, als auf den Blitz in Sekundenschnelle der Donnerschlag folgte. Draußen regnete es nicht, nein, Regenwände fielen zu Boden. Anne murmelte beruhigend auf das Tier ein, öffnete ihm eine Dose und trocknete sich mit dem Küchenhandtuch die nassen Haare, während sie in den grauen Vorhang blickte, der vor dem Fenster stand.
    Es blitzte und donnerte mit einer Wucht, die für diese Jahreszeit und diese Gegend ungewöhnlich war. Unwillkürlich fiel ihr das Wort »Weißwaschen« ein. Als ob der Regen der Stadt ihre Geschichte aus den Mauern spülen wollte. »Quatsch«, sagte sie laut und legte das blaue Grubentuch zum Trocknen über die Stuhllehne.
    Es blitzte wieder. Fast zeitgleich rollte der Donner über sie hinweg. Das Licht der Birne in der schwarzen Blechlampe über dem Küchentisch flackerte und erlosch. Der Hund winselte. Das Licht ging wieder an. Aufatmend streichelte sie dem Tier den Kopf, das jetzt zu lauschen schien, die Schnauze zur Zimmerdecke gereckt.
    Dann hörte auch Anne hin. Es mußte, dachte sie und ihr Herz schlug einen

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