nichts als die wahrheit
hatten im Frühjahr ihr letztes Kalb geschlachtet. Er hatte an das Allerschlimmste gedacht, an Vandalen, sogar an Rinderwahnsinn, als er es mit in den Himmel gereckten Beinen auf der Wiese hatte liegen sehen. Aber es war der Metzger gewesen, der es draußen gekeult hatte. Noch am selben Tag hatte er das Tier in der Waschküche zerlegt. Aus dem Blut und den Innereien wurde in einem Riesenbottich Metzelsuppe gekocht, die man an jeden Dorfbewohner austeilte.
So, wie es immer gewesen war. Und wie es immer sein würde. Nur, daß es dann im ganzen Dorf kein Kälbchen mehr geben dürfte, das man schlachten konnte.
»Ach, das lohnt sich doch nicht mehr«, hatte Marianne gesagt, als er sich dieser düsteren Aussichten wegen bei ihr ausweinen wollte. »Und meine Milchküh’ – damit ist auch irgendwann Schluß.«
Die Vorstellung, sie könnte nie mehr ihre schwarzbunten Holsteiner durchs Dorf treiben, er würde nie mehr das langgezogene »Aaauf!« hören, mit dem sie die Tiere antrieb, nie mehr das Klatschen des dicken Buchenstocks auf den Flanken der ständig trödelnden Tiere – das trieb ihm die Tränen in die Augen.
Aber vielleicht war das auch nur der Wind, der mit einem Mal herbstlich und kalt wehte.
Für ihn gab es keinen Weg zurück – etwa in die Stadt? In einen ordentlichen Beruf? In ein Leben ohne blühende Rosen und Schweinestallgestank? Und es gab auch keinen Weg zurück für Anne – irgendwann würde auch sie das einsehen müssen. Und was sollte man schon von Begründungen für den Ausflug nach Berlin halten wie: »Ich hab’ noch eine Rechnung offen« und »Sonst hätte er noch im nachhinein gesiegt«?
Dabei hatte die einzig gute Tat von IM Caruso just darin bestanden, sie hierherzubringen, in die Rhön, auf den Weiherhof. Erst mit der Schwachsinnsidee, zurückzukehren in die Politik, hatte der Mann gesiegt – auf ganzer Linie. Bremer erinnerte sich mit Grauen an die Parteisitzung, an der er einmal teilgenommen hatte, nur, um zu wissen, nach welcher Welt Anne sich zurücksehnte. Das Gemurmel, während sie ihre Rede hielt, die bösen Blicke, die sich insbesondere die »Jute-statt-Plastik«-Weiber zuwarfen – und der hämische Spott, der über sie niedergegangen war:
»Wenn eine so blöd ist, daß sie sich jahrelang von ihrem eigenen Mann …«
»Also, wenn das meiner gewesen wäre, das hätte ich gewußt …«
Nichts hätten die doofen Schnepfen gewußt. Aber die Botschaft war so alt wie die Welt: Anne, das Opfer, war mindestens so schuldig wie Leo, der Täter.
Bremer trat fester in die Pedale. »Ich will’s noch einmal wissen« – tja. Ob sie jetzt mehr wußte? Er war bei Rena vorbeigefahren, gestern. Das Mädchen wirkte, als ob es nie etwas anderes getan hätte, als einen Bauernhof von der Größe des Weiherhofs zu betreiben. Auf die Frage nach Anne hatte Rena mit den Schultern gezuckt und »Keine Ahnung« gemurmelt. »Wahrscheinlich hat sie zu tun.«
Bremer überholte Hayda, den Dorf-Kurden, der auf seinem klapprigen Damenfahrrad unterwegs war, diesmal ohne die Kinder, also wahrscheinlich unterwegs zu irgendeinem Aushilfsjob. Hayda schwankte bedrohlich hin und her, als er die Hand hob, um Bremer zu grüßen.
Das ganze Dorf fieberte der Entscheidung des Gerichts entgegen, das über Haydas Asylantrag zu befinden hatte – in drei Wochen. Alle waren sich einig, daß es ungerecht, ein Verbrechen, daß es unmenschlich, geradezu skandalös wäre, würde man Hayda zurückschicken – mal abgesehen davon, daß man ihn hier brauchte, beim Heumachen, Stallausmisten und für die Schwarzarbeit am Bau, genannt Nachbarschaftshilfe. Bei anderen Asylfällen war man in Klein-Roda zugegebenermaßen nicht ganz so großherzig. Aber Hayda »ist uns«, wie Gottfried zu sagen pflegte – er gehörte dazu, auch wenn er noch immer kaum Deutsch konnte und seine Frau vorsichtshalber lachte, wenn sie nichts verstand. Auf dem Dorf verteidigt man eben, was man kennt – und nicht irgendein Prinzip.
Bremer fühlte sich plötzlich als Asylsuchender eigener Art, der aufgenommen war, obwohl er ebenfalls die Landessprache nicht beherrschte. Und vielleicht war es auch für ihn Zeit zu gehen – auch wenn ihn kein Gericht dazu auffordern würde. Aber warum? Und wohin? Anne glaubte wenigstens, noch eine Rechnung offen zu haben. Er aber hatte keine Außenstände. Er wollte weder sich selbst noch anderen irgend etwas beweisen. Er hatte nichts mehr vor im Leben – nichts Großartiges jedenfalls. Und das war völlig in Ordnung
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