Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
Vom Netzwerk:
so. Morgens die Asche raustragen, nachmittags die Socken stopfen, samstags die Gass’ kehren und abends einen Schoppen trinken. Das war das Leben – ein Leben, das andere für ihr spezielles Gottesgeschenk hielten, statt sich den Kopf zu zerbrechen, ob sie anderswo irgend etwas versäumten.
    Aber die hatten offenbar Talent zum Glück. Anders als Paul Bremer.
    Wie auf einer Künstlerpostkarte sah er sich plötzlich am Fenster sitzen, die Nase spitz, das Gesicht voller Falten, im Rollstuhl womöglich, mit einer karierten Decke über den dünnen Beinen, geradeso wie Großonkel Wallenstein kurz vor seinem Tod. Wie alte Herren eben am Fenster sitzen, vielleicht, um sich den Film des eigenen Lebens vorzuspielen, vorwärts und rückwärts. Der alte Kappes hatte jahrelang so am Fenster gesessen. Würde Bremer, wenn es soweit war, die Glücksmomente zählen? Oder sich die Versäumnisse vorrechnen? Nach Jahren würden alle im Dorf glauben, sein Bild gehöre fest zum Fensterausschnitt. Und dann, eines Tages, würde er nicht mehr da sein. Wie der alte Kappes plötzlich nicht mehr da war. Weg vom Fenster.
    Bei der Einfahrt in Klein-Roda registrierte er mißbilligend die tiefen Furchen, die die Panzer in den Acker gezogen, die Schrammen, die sie auf dem asphaltierten Feldweg hinterlassen, und das Loch, das sie in den letzten noch nicht elektronisch aufgerüsteten Weidezaun aus Balken und Planken gerissen hatten. Nur die Kinder hatten die zwei Tage genossen, in denen das Dorf besetzt war – endlich war mal was los, und das Dosenbrot, das die Soldaten kiloweise verteilt haben mußten, fanden alle ungeheuer exotisch. Sogar Carmen und ihre Freundinnen hatten neuerdings etwas wirklich Wichtiges zu bereden, während sie die Dorfstraße hoch- und wieder herunterdefilierten: Welcher der jungen Männer, die ihnen zugelacht hatten, »süßer« gewesen sei.
    Als Bremer vor seinem Gartentor bremste, hockte mitten auf dem Weg der dicke graue Kater über der jungen schwarzweißen Kätzin. Der Dicke grollte und grummelte und versuchte, die Kleine am Nacken zu packen. Sie schien das für ein nettes Spiel zu halten, rollte sich unter ihm auf den Rücken, tatschte mit den Pfötchen nach dem Kerl und winkte kokett mit der schwarzen Schwanzspitze. Bremer schaute fasziniert zu. Der Dicke knurrte noch immer, schien aber zu begreifen, daß die Kleine nicht ahnte, worum es eigentlich ging, und begann schließlich, ihr das Gesicht abzulecken.
    Auch eine Lösung, dachte Paul, stellte das Rad in den Schuppen und ging in die Küche. Den Wein fürs Abendessen öffnete er schon jetzt, voller Lust auf den Duft und den Geschmack von Rheingauer Riesling, Jahrgang 1994, ein Erstes Gewächs, aus der besten Lage, die Großvater Wallenstein besessen hatte, und einer seiner großartigsten Weine. Ein echter Zaubertrank.
    Vielleicht hätte er ihn rechtzeitig am lebenden Objekt ausprobieren sollen? Er hob das Glas gegen das Licht. Den Probeschluck trank er auf Anne.

2
    Berlin
     
    Warum sammelte Peter Zettel, ordentlich, akribisch, wie ein guter Journalist eben, intime Details aus dem Leben seiner Kollegen? Hans Becker trieb diese Frage schon seit Stunden durch die Stadt. Gedankenverloren war er bereits zweimal in die Hinterlassenschaften Berliner Witwentröster getreten, wie Walter Loewe selig den kläffenden Teil der Stadtbevölkerung zu nennen pflegte. An solchen Informationen waren höchstens potentielle Erpresser interessiert. Dann allerdings mußte es in Zettels Computer auch Dossiers über wichtigere Personen geben, als seine Kollegen es waren. Über Politiker? Über einflußreiche Männer wie Alexander Bunge? Basierte die gefälschte dpa-Meldung also womöglich doch auf der Wahrheit? Denn wer so präzise so viele Geheimnisse anderer kennt – muß der dann fälschen?
    Nächste Frage, dachte Becker. Hatte Bunge erpreßt werden sollen? Dann mußte etwas schiefgelaufen sein dabei. Tote zahlen keine Schutzgelder. Das wiederum würde die Abwesenheit Zettels erklären – der hatte sich abgesetzt, weil er Enthüllung befürchtete. Fast hätte Becker laut geschnaubt. Enthüllung? Etwa durch solche Geistesgiganten wie Thomas Schiffer? Unwahrscheinlich.
    Irgend etwas stimmte ganz offenbar nicht mit seinen Schlußfolgerungen, aber er konnte beim besten Willen nicht sagen, was. Vielleicht lag es daran, daß er diese ganze Fälscherei noch immer für etwas hielt, das untypisch war für einen Mann. Männer drohten direkt, nicht hintenherum. Andererseits: War es denkbar,

Weitere Kostenlose Bücher