Nichts als Knochen
Sonntagnachmittag. Sie kam gerade von einem Besuch bei ihrem Bruder zurück, und wir haben uns im Flur getroffen und ein paar Sätze gewechselt.«
Rebecca, die das Unbehagen ihrer Gesprächspartnerin bemerkt hatte, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Keine Angst, er sieht zwar ein bisschen wild aus, ist aber ganz harmlos. Das ist mein Mitarbeiter Thomas Stockhausen. Wissen Sie, wo der Bruder von Frau Walterscheidt wohnt?«
»Ja, er ist Mönch und lebt in Maria Laach.«
Rebeccas Lächeln erstarrte, und für Sekunden war ihr Hirn völlig leer. Thomas, der sie beobachtet hatte, sprang in die Bresche: »Wissen Sie, zu wem sie sonst noch Kontakt hatte?«
»Sie war eine ziemlich lebenslustige Person und hatte viele Freunde.«
»Hatte sie auch einen festen Freund?«
»Schwer zu sagen. Hätten Sie mich vor vier Wochen gefragt, hätte ich ohne Zögern geantwortet: Jan. Aber inzwischen sieht das wohl anders aus.«
»Warum?«
Thomas hatte sich bis zum Tisch vorgearbeitet und Rebecca, die immer noch ziemlich blass um die Nase war, eine Hand auf die Schulter gelegt.
»Als ich sie letzte Woche bei einem Kaffee auf Jan ansprach, sagte sie, dass die Dinge sich manchmal ändern und in ihrem Leben eine sehr aufregende Änderung stattgefunden hat.«
»Wissen Sie auch, worin diese Änderung bestand?«
Nicole Berger schüttelte den Kopf.
»Nein, aber so wie sie es sagte, konnte es sich nur um eine neue Liebe handeln.«
»Kannten Sie diesen Jan?«, fragte Thomas weiter.
»Flüchtig. Die beiden waren seit etwa einem Jahr zusammen, aber wenn ich sie eingeladen habe, ist Andrea immer alleine erschienen. Ich kannte ihn also nur von ein paar Begegnungen in ihrer Wohnung oder im Treppenhaus.«
»Aber Sie würden ihn wieder erkennen?«
Sie nickte.
»Könnte es sich bei der männlichen Leiche im Schlafzimmer von Frau Walterscheidt um Jan handeln?«
»Ich weiß nicht. Ich hab die Leiche gar nicht ganz gesehen. Ich hab nur einen Arm und die Beine hinter dem Bett gesehen. Dann bin ich sofort weggelaufen.«
Nicole Berger starrte wieder auf die geblümte Tischdecke, und Thomas ging vor ihr in die Hocke, um ihr in die Augen sehen zu können.
»Frau Berger, wäre es Ihnen möglich, mit mir nach nebenan zu gehen und sich die Leiche anzusehen? Vielleicht können Sie ihn ja identifizieren.« Thomas sah das panische Flackern in ihren Augen und fügte rasch hinzu: »Wenn Sie sich im Moment nicht dazu in der Lage fühlen, ist das kein Problem. Sie können auch morgen in die Gerichtsmedizin kommen.«
Nicole Berger hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht.
»Das ist wie die Wahl zwischen Pest und Pocken.«
Sie zögerte einen Moment.
»Liegt sie … ich meine … liegt ihre Leiche auch noch dort?«
Thomas stand auf und wandte sich zur Tür.
»Ich werd mal nachsehen. Warten Sie hier auf mich.«
Kurz darauf kam er zurück und blieb in der Küchentür stehen.
»Es liegt jetzt nur noch die männliche Leiche da. Wollen wir?«
Nicole Berger stand langsam auf und nickte. Zusammen betraten sie die Wohnung von Andrea Walterscheidt und folgten dem Flur bis ans Ende. Thomas betrat als Erster das Schlafzimmer, und Frau Berger folgte ihm nur zögernd. Hinter dem Bett knieten zwei Männer, die gerade dabei waren, die Leiche umzudrehen, um sie in den Bleisarg zu legen und abzutransportieren. Thomas bedeutete ihnen, noch einen Augenblick zu warten, und winkte die junge Frau heran, die mit großen Augen näher trat. Der Tote lag jetzt auf dem Rücken, und sein Gesicht war in Richtung Bett gedreht, sodass von dem Einschussloch in seiner Schläfe nichts zu sehen war. Das schmale Gesicht war bleich und die Lippen blutleer. Die Augen waren inzwischen geschlossen, doch der Mund stand immer noch ein Stück offen und erweckte so den Anschein, als wolle er noch etwas sagen. Zwei kräftige Schneidezähne, bei denen eine Ecke abgebrochen war, kamen zum Vorschein.
Thomas legte eine Hand auf Nicoles Rücken und schob sie sachte einen Schritt näher an die Leiche heran.
»Sehen Sie ihn sich genau an. Oft verändert der Tod das Gesicht eines Menschen erheblich. Ist das Jan, der Freund Ihrer Nachbarin?«
Die junge Frau sträubte sich zunächst, betrachtete den Mann dann aber einige Sekunden aufmerksam und schüttelte schließlich den Kopf.
»Nein, das ist er nicht. Jan ist deutlich kleiner und viel kräftiger gebaut als der hier. Er ist nicht so dünn, und auch das Gesicht ist ganz anders, eher rundlich, nicht so schmal. Auch der Mund, die Nase, die
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