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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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angenommen, ich hätte einen freien Willen, und mich in meinen Augen auch immer entsprechend verhalten. G. klärte mich professionell über meinen Irrtum auf. Wie er erläuterte, können wir zwar glauben, wir hätten die Freiheit, so zu handeln, wie wir wollen, doch wir können nicht bestimmen, was wir wollen (und wenn wir bewusst beschließen, etwas »wollen zu wollen«, ergibt sich das übliche Problem einer Regression auf ein »Ur-Wollen«). Irgendwann müssen die Wünsche einfach als gegeben hingenommen werden: das Ergebnis von Vererbung und Erziehung. Von daher ist die Vorstellung unhaltbar, ein Mensch könne wahrhaft und bis ins Letzte für seine Taten verantwortlich sein; wir können höchstens eine vorübergehende, oberflächliche Verantwortung tragen – und selbst die wird sich im Laufe der Zeit als Irrtum erweisen. G. hätte mit Fug und Recht Einsteins Folgerung anführen können, wenn ein mit höherer Einsicht und vollkommenerer Intelligenz begabtes Wesen den Menschen und sein Treiben beobachten würde, so würde es lächeln über die Illusion des Menschen, er handle nach seinem eigenen freien Willen.
    Irgendwann gab ich mich geschlagen, verhielt mich aber weiterhin genau wie vorher (was, wenn ich’s mir recht überlege, vielleicht ein schöner Beweis für G.s These war). G. tröstete mich mit der Bemerkung, wir könnten seiner philosophischen Meinung nach zwar unmöglich einen freien Willen haben, doch habe dieses Wissen keinerlei praktische Auswirkungen darauf, wie wir uns verhalten oder verhalten sollten. Und so vertraue ich weiterhin darauf, dass dieses auf einem Irrglauben beruhende mentale Konstrukt mich auf dem Weg aller Sterblichen dorthin leiten wird, wo mein Wille, ob frei oder gefesselt, nie mehr wirkt.
    Was wir wissen (oder zu wissen meinen), was der Fall ist, ist das eine; was wir glauben, dass es der Fall ist (aufgrund der Versicherungen von Leuten, denen wir vertrauen), ist etwas anderes; und wieder etwas anderes ist, wie wir uns verhalten. In Großbritannien herrscht immer noch mehr oder weniger die christliche Moral, auch wenn die Gemeinden schrumpfen und Kirchen sich unaufhaltsam in historische Denkmäler – die in manch einem »einen jähen Hunger nach mehr Ernst« auslösen – und Loft-Apartments verwandeln. Auch ich stehe unter diesem Einfluss: Mein moralisches Empfinden ist von der christlichen Lehre geprägt (genauer gesagt von vorchristlichem Stammesverhalten, das von der Religion kodifiziert wurde); und der Gott, an den ich nicht glaube, den ich aber dennoch vermisse, ist naturgemäß der christliche Gott Westeuropas und des nichtfundamentalistischen Amerikas. Allah oder Buddha vermisse ich nicht, so wenig wie Odin oder Zeus. Und ich vermisse eher den Gott des Neuen als den des Alten Testaments. Ich vermisse den Gott, der italienische Malerei ebenso inspirierte wie französische Buntglasfenster, deutsche Musik, englische Kapitelsäle und die verfallenen Steinhaufen auf keltischen Landzungen, die einst symbolische Leuchttürme in Sturm und Finsternis waren. Mir ist auch klar, dass dieser Gott, den ich vermisse, dieser Inspirator von Kunstwerken, für manch einen eine ebenso unerhebliche Wunschvorstellung ist wie die so oft behauptete »eigene Vorstellung von Gott«, über die ich mich vor einer Weile lustig machte. Außerdem könnte jeder Gott, wenn es denn einen gibt, ein solch dekoratives Feiern seiner Existenz durchaus für banal und großspurig zugleich halten, etwas, was göttliche Gleichgültigkeit, wenn nicht gar Strafe verdient. Er könnte Fra Angelico süßlich finden und gotische Kathedralen prätentiöse Versuche, ihm durch ein Werk zu imponieren, das eine völlig falsche Vorstellung davon verrät, wie er gern verehrt werden möchte.

    Was Ehrlichkeit, Großzügigkeit, Integrität und Treue – oder das jeweilige Gegenteil davon – angeht, unterscheiden sich meine agnostischen und atheistischen Freunde kein bisschen von denen, die sich als religiös bezeichnen. Ist das ein Sieg für sie oder für uns? In jungen Jahren meinen wir, die Welt zu erfinden, wie wir uns selbst erfinden; später erkennen wir, wie sehr die Vergangenheit uns im Griff hat und immer hatte. Ich bin dem entflohen, was ich für die langweilige Biederkeit meiner Familie hielt, und muss mit zunehmendem Alter immer mehr Ähnlichkeiten mit meinem verstorbenen Vater an mir entdecken. Meine Sitzhaltung am Tisch, die Neigung meines Kinns, die beginnende Glatzenbildung und ein bestimmtes höfliches

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