Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
Vom Netzwerk:
dieses Restbewusstsein, vor dem Miller sich fürchtet, als nützlich und gütig, als ein Bilanzziehen mit einem weichen schwedischen Akzent.

    Der mittelalterliche Vogel fliegt aus dem Dunkel in einen hell erleuchteten Saal und wieder hinaus. Eins der ach so vernünftigen Argumente gegen die Todesangst lautet: Wenn wir die zeitliche Ewigkeit nicht fürchten und verabscheuen, die zu unserem kurzen Moment eines Lebens im Licht führt, warum sollte es uns dann mit der zweiten Periode der Dunkelheit anders gehen? Ist doch klar: Weil sich das Universum – oder zumindest ein ganz, ganz unbedeutender Teil desselben – in der ersten Periode der Dunkelheit auf die Erschaffung von etwas eindeutig Wichtigem vorbereitete, dessen Gene zweckdienlich verflocht und es durch eine Folge von affenartigen, grunzenden, Keulen schwingenden Vorfahren hindurchschickte, bis es sich zusammenballte und die drei Generationen von Lehrern ausspuckte, die dann … mich erschufen. Dieses Dunkel hatte also einen Zweck – jedenfalls von meinem solipsistischen Standpunkt aus, während es absolut nichts gibt, was für die zweite Dunkelheit spräche.
    Es könnte vermutlich auch schlimmer sein. Das kann es fast immer – was ein gewisser Trost ist. Wir könnten den pränatalen Abgrund ebenso fürchten wie den postmortalen. Seltsam, aber nicht unmöglich. Nabokov schildert in seiner Autobiografie einen »Chronophobiker«, der in Panik geriet, als man ihm Amateurfilme über die Welt in den Monaten vor seiner Geburt vorführte: das Haus, in dem er wohnen würde, seine künftige Mutter, die dort zum Fenster hinausschaute, einen leeren Kinderwagen, der eines Babys harrte. Die meisten von uns würde das alles nicht schrecken, sondern eher fröhlich stimmen; der Chronophobiker aber sah nur eine Welt, in der es ihn nicht gab, ein weites Feld des Nichtvorhandenseins. Es war ihm auch kein Trost, dass diese Abwesenheit sich unaufhaltsam dazu rüstete, sein künftiges Dasein zu schaffen. Ob diese Phobie seine postmortale Angst minderte oder im Gegenteil verdoppelte, darüber schweigt Nabokov.
    Eine raffiniertere Version des Arguments vom Vogel im Saal stammt von Richard Dawkins. Wir werden in der Tat alle sterben, und der Tod ist absolut und Gott reine Einbildung, aber wir haben trotzdem Glück gehabt. Die meisten »Menschen« – die überwältigende Mehrheit potenzieller Menschen – werden gar nicht erst geboren, und deren Zahl ist größer als die aller Sandkörner in allen Wüsten Arabiens. »Die Menge möglicher Menschen, die unsere DNA erlaubt … übersteigt die Menge tatsächlicher Menschen bei Weitem. Ungeachtet dieser verblüffenden Relation gibt es Sie und mich in all unserer Gewöhnlichkeit.« Warum ist mir das so ein magerer Trost? Nein, schlimmer, ein geradezu deprimierender Gedanke? Weil so viel Evolutionsaufwand, so viele unbekannte kosmische Glücksfälle, so viele Entscheidungsprozesse, so viel familiäre Fürsorge über Generationen hinweg, so viel Dies und Das und Sonstnochwas schließlich mich und meine Einzigartigkeit hervorgebracht haben. Auch meine Gewöhnlichkeit und Ihre und die von Richard Dawkins, aber doch eine einzigartige Gewöhnlichkeit, eine umwerfend unwahrscheinliche Gewöhnlichkeit. Das macht es schwerer und nicht leichter, mit einem philosophischen Schulterzucken zu sagen: Was soll’s, es könnte mich gar nicht geben, also erfreue ich mich weiterhin an diesem kleinen Zeitfenster, das anderen nicht vergönnt war. Wenn man nicht gerade Biologe ist, fällt es aber auch nicht leicht, diese Billionen ungeborener, genetisch-hypothetischer anderer als »potenzielle Menschen« zu bezeichnen. Ich habe kein Problem damit, mir ein tot geborenes oder abgetriebenes Baby als potenziellen Menschen vorzustellen, aber die vielen möglichen Kombinationen, die nie zustande kamen? Da stößt mein menschliches Mitgefühl leider an seine Grenzen – die Wüsten Arabiens gehen über meinen Horizont.
    Ich kann also nicht philosophisch sein. Sind Philosophen philosophisch? Waren die Lakonier wirklich lakonisch, die Spartaner tatsächlich spartanisch? Nur relativ gesehen, nehme ich an. Außer meinem Bruder kenne ich nur einen einzigen Philosophen gut, meinen vom Tod verfolgten Freund G., der mir als Vierjähriger beim Todesbewusstsein um zehn Jahre voraus war. Wir beide haben uns einmal lange über die Willensfreiheit unterhalten. Wie alle anderen habe ich – als Dilettant in meinem Leben und allem, was dieses Leben betrifft – immer

Weitere Kostenlose Bücher