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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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glaubst du, was du jetzt hast, das ist Leben?«, wie der hartherzige Caesar zu seinem ehemaligen Legionär sagte. Dennoch – und schlimmer noch – muss man sich vorstellen, dass dieser hinfällige Körper die Vergessenheit jetzt noch mehr fürchtet als früher, als er gesund und kräftig war und sich mit körperlicher und geistiger Betätigung, gesellschaftlicher Nützlichkeit und dem Umgang mit Freunden vom Nachdenken über diese Vergessenheit ablenken konnte. Ein Körper, bei dem sich nun eine Gehirnkammer nach der anderen schließt – geistige Klarheit weg, Sprache weg, Erkennen von Freunden weg, Gedächtnis weg, stattdessen eine Fantasiewelt voll kleiner Schlingel und unzuverlässiger Tennispartner. Übrig bleibt – der letzte Rest der Maschine, der noch unter Dampf steht – nur die Kammer, die uns den Tod fürchten lässt. Ja, dieses bisschen Gehirntätigkeit funktioniert fröhlich weiter, stößt Panik aus und jagt Schauder und Entsetzen durch den Organismus. Gegen die Schmerzen gibt es Morphium – und dann vielleicht etwas mehr, als man eigentlich braucht, und dann die nötige Überdosis –, aber es gibt kein Mittel, das diesen unerbittlichen Klumpen von Gehirnzellen daran hindert, uns bis zum bitteren Ende eine Scheißangst einzujagen. Dann könnten wir es bereuen, dass wir je mit Renard dachten: »Bitte, lieber Gott, lass mich nicht zu rasch sterben.«
    Der Autor und Regisseur Jonathan Miller ist ausgebildeter Arzt. Obwohl er starre Leiber seziert hatte und mit wachsweichen umgegangen war, aus denen der Lebenshauch eben erst entwichen war, musste er über vierzig werden, bevor er – wie er sich ausdrückte – dachte: »He, Moment mal – das bin ich auch irgendwann.« Mit Mitte fünfzig behauptete er auf Befragen, die Langzeitfolgen schreckten ihn immer noch nicht: »Die Angst davor, einfach nicht mehr zu existieren – nein, die kenne ich überhaupt nicht.« Stattdessen bekannte er sich zu einer Angst vor dem Sterbebett und den Begleitumständen: Agonie, Delirium, quälende Halluzinationen und die jammernden Angehörigen, die sich auf sein Hinscheiden gefasst machen. Das scheint mir eine ganz schöne Liste zu sein, aber nicht als Alternative, sondern nur als Zugabe zu der richtigen, erwachsenen Angst davor, »einfach nicht mehr zu existieren«.
    Wie Freud kann Miller »die vollständige Vernichtung nicht eigentlich begreifen, nicht erfassen«. Und so überträgt sich seine Fähigkeit zum Entsetzen, wie es scheint, zunächst auf den Prozess und die Demütigungen des Sterbens und dann auf verschiedene mögliche Stadien eines halben Daseins oder Beinah-Daseins, die im Zusammenhang mit oder nach dem Tod eintreten könnten. Er fürchtet »diesen nicht ganz erstickten Rest von Bewusstsein« und denkt sich eine außerkörperliche Erfahrung, bei der er seiner eigenen Beerdigung zuschaut, »oder eigentlich nicht zuschaut, sondern bewegungsunfähig im Sarg liegt«. Ich kann mir diese neue Version der alten Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden vorstellen, finde sie aber nicht sonderlich erschreckend. Wenn es ein Restbewusstsein gäbe, das unserer eigenen Beerdigung zusieht und in unserem Sarg herumwogt, warum sollte dieses Bewusstsein sich zwangsläufig vor dem Eingeschlossensein fürchten?
    Die meisten von uns haben über den Tod schon einmal gedacht oder gesagt: »Nun ja, wir werden es erfahren« – wohl wissend, dass wir das Negative, das wir erwarten, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie »erfahren« werden. Ein solcher Rest von Bewusstsein könnte dazu da sein, uns die Antwort zu geben. Er könnte ein sanftes Nein sagen. Er könnte als Zuschauer über unserer Beerdigung oder Einäscherung schweben, von diesem lästigen Körper und dem Leben, das darin war, Abschied nehmen und »uns« (einmal angenommen, er ist immer noch irgendwie mit dem Ich verbunden oder dessen symbolische Verkörperung) glauben lassen, es sei schon richtig, was da geschieht. Er könnte besänftigen, zur Ruhe betten, Trost spenden wie ein Gutenachtkuss, ein ontologischer Schlummertrunk.
    Ich habe eine schwedische Freundin, K., die einem gemeinsamen Freund, dessen Sterben an Krebs sich schon allzu lange hinzog, ganz sanft und fürsorglich zuflüsterte: »Es wird Zeit loszulassen.« Ich sage immer scherzhaft zu ihr, wenn ich diese Stimme mit ihrem leichten Singsang an meinem Ohr und diesen oft erprobten Rat hören würde, dann wüsste ich, dass es wirklich sehr schlecht um mich steht. Vielleicht erweist sich

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