Nichts, was man fürchten müsste
Lachen, das ich von mir gebe, wenn ich etwas eigentlich nicht lustig finde: Dies (und sicher noch vieles andere, das mir gar nicht auffällt) sind genetische Replikationen und eindeutig keine Äußerungen eines freien Willens. Mein Bruder stellt dasselbe fest: Er spricht immer mehr wie unser Vater, mit denselben Slang-Ausdrücken und halben Sätzen – er ertappt sich dabei, »wie ich mich genauso anhöre wie er und sogar in meinen Pantoffeln herumschlurfe wie er früher«. Seit Neuestem träumt er auch von Dad – nachdem sich ihm sechzig Jahre lang weder Vater noch Mutter im Schlaf aufgedrängt hatten.
Grandma glaubte in ihrer Demenz, meine Mutter sei ihre seit fünfzig Jahren tote Schwester. Meine Mutter wiederum sah alle ihre Verwandten aus ihrer Kinderzeit um sich, die jetzt gekommen waren, um ihre Anteilnahme auszudrücken. Zu gegebener Zeit wird unsere Familie auch zu meinem Bruder und mir kommen (nur meine Mutter sollen sie bitte nicht schicken). Doch hat die Vergangenheit uns je losgelassen? Wir leben im Großen und Ganzen nach den Lehren einer Religion, an die wir nicht mehr glauben. Wir leben so, als wären wir Wesen mit völlig freiem Willen, obwohl Philosophen und Evolutionsbiologen uns erklären, dass das weitgehend Fiktion ist. Wir leben, als wäre das Gedächtnis ein wohlkonstruiertes und personell gut ausgestattetes Fundbüro. Wir leben, als wäre die Seele – oder der Geist, die Individualität oder die Persönlichkeit – ein identifizierbares und lokalisierbares Gebilde und keine Geschichte, die das Gehirn sich selbst erzählt. Wir leben, als wären Natur und Erziehung ein gleichberechtigtes Elternpaar, obwohl alles darauf hindeutet, dass die Natur der alleinige Herr im Haus ist.
Ob dieses Wissen je Wirkung zeigt? Wie lange wird das dauern? Einige Wissenschaftler meinen, wir werden die Geheimnisse des Bewusstseins nie vollständig entziffern, da uns zum Verständnis des Gehirns nichts anderes zur Verfügung steht als das Gehirn selbst. Vielleicht geben wir die Illusion eines freien Willens nie auf, weil wir den Glauben daran nur durch einen Akt des freien Willens aufgeben könnten, den wir nicht haben. Wir werden weiterhin so leben, als wären wir der alleinige Herr über alle unsere Entscheidungen. (Die verschiedenen grammatikalischen und inhaltlichen Änderungen, die ich direkt beim Schreiben wie auch nach einiger Zeit und weiteren Überlegungen an diesem letzten Satz vorgenommen habe – wie sollte »ich« nicht glauben, »ich« hätte sie vorgenommen? Wie kann ich glauben, diese Worte und diese nachfolgende Klammer und alle Erläuterungen, die ich darin gebe, und die gelegentlichen Tippfehler und das nächste Wort, ob vollständig ausgeschrieben oder auf halbem Wege fallen gelassen, weil ich es mir anders überlegt habe und es als Wo stehen ließ – all das seien nicht Emanationen eines in sich geschlossenen Ichs, das in einem Prozess des freien Willens literarische Entscheidungen trifft? Es will mir nicht in den Kopf, dass dem nicht so sein soll.)
Vielleicht haben Sie es leichter, und wenn schon nicht Sie, dann die Generationen, die nach Ihrem Tod zur Welt kommen. Vielleicht sehen die in mir – und Ihnen – so etwas wie die »total kaputten alten Knacker« (männlichen wie weiblichen Geschlechts) aus Philip Larkins Gedicht Posterity. Vielleicht finden sie die halb übernommene, halb selbstgebastelte Moral, nach der Sie und ich zu leben glauben, verschroben und selbstgefällig. Als die Religion in Europa ins Wanken geriet – als »gottlose Erzspizbuben« wie Voltaire ihr Wesen trieben –, tauchte die natürliche Sorge auf, wo jetzt die Moral herkommen sollte. In einer gefährlich herrschaftslosen Welt könnte jedes Dorf seinen Casanova, seinen Marquis de Sade, seinen Blaubart hervorbringen. Es gab Philosophen, die zwar zu ihrer eigenen Genugtuung und der ihres intellektuellen Zirkels das Christentum widerlegten, aber doch meinten, dieses Wissen solle von Bauern und Schankkellnern ferngehalten werden, sonst würde das Gesellschaftsgefüge zusammenbrechen und das Dienstbotenproblem überhandnehmen.
Doch Europa ging trotzdem nicht unter. Und wenn sich das Dilemma nun in noch schärferer Form stellt – worin liegt die Bedeutung meines Handelns in einem leeren Universum, in dem sogar noch mehr Gewissheiten untergraben wurden? Wozu soll man sich gut betragen? Warum nicht selbstsüchtig und gierig sein und alles auf die DNA schieben? –, haben Anthropologen und
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