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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Evolutionsbiologen einen Trost anzubieten (wenn auch nicht für die Gläubigen). Egal, was die Religionen behaupten, wir sind so geschaffen – genetisch programmiert –, dass wir als soziale Wesen funktionieren. Altruismus ist evolutionär nützlich (ha! Damit wäre die Tugend – auch so eine Illusion – erledigt); das heißt, ob es nun einen Prediger gibt oder nicht, der den Himmel verheißt und mit dem Höllenfeuer droht, solange ein Einzelner in einer Gemeinschaft lebt, handelt er im Großen und Ganzen gleich. Die Religion führt weder zu einem besseren noch zu einem schlechteren Verhalten der Menschen – was aristokratische Atheisten ebenso enttäuschen mag wie gläubige Menschen.

    Als junger Student der Romanistik zerbrach ich mir den Kopf über den Begriff des acte gratuit. Wie ich es verstand, steckte folgende Idee dahinter: Um uns als die Herren des Universums zu behaupten, müssen wir eine spontane Handlung vollbringen, die weder ein erkennbares Motiv noch eine Rechtfertigung hat und sich über die herkömmliche Moral hinwegsetzt. Ich erinnere mich an das Beispiel aus Gides Die Verliese des Vatikan, wo dieser Akt darin be stand, dass der grundlos Handelnde einen ihm völlig Fremden aus einem fahrenden Zug stieß. Reines Handeln, wie man sieht (und, wie mir jetzt klar wird, auch ein vermeintlicher Beweis für den freien Willen). Ich sah das nicht – oder nicht genug. Ich musste immer wieder daran denken, wie dieser Unglückliche mitten in der französischen Provinz in den Tod gestürzt wird. Mord – oder vielleicht das, was das im Sumpf des Christentums stecken gebliebene bourgeoise Denken als Mord bezeichnete – zwecks Demonstration einer philosophischen These erschien mir zu … zu theoretisch, zu französisch, zu abstoßend. Mein Freund G. würde allerdings einwenden, der grundlos Handelnde mache sich selbst etwas vor (da er nur etwas »wollen wolle«). Und wenn seine Behauptung eines reinen freien Willens eine Selbsttäuschung war, dann war meine Reaktion darauf es vermutlich auch.
    Gleichen wir den antarktischen Pinguinen oder gleichen sie uns? Wir gehen in den Supermarkt, sie schlittern und watscheln bei der Nahrungssuche meilenweit über das Eis bis ans offene Meer. Doch ein Detail wird in den Tierfilmen immer ausgelassen. Wenn die Pinguine sich dem Ufer nähern, bummeln und trödeln sie erst einmal herum. Hier ist ihre Nahrung, aber hier lauert auch Gefahr; im Meer gibt es Fische, aber auch Robben. Die lange Wanderung könnte damit enden, dass die Pinguine nicht fressen, sondern gefressen werden – und dann verhungern daheim in der Kolonie ihre Jungen und ihr Genpool stirbt aus. Darum machen die Pinguine Folgendes: Sie warten, bis einer von ihnen, der hungriger oder auch gieriger ist, ans Ende der Eiszunge kommt und in das nährende, aber auch tödliche Meer schaut. Und dann benehmen sie sich wie eine Horde von Pendlern auf einem Bahnsteig und schubsen den unvorsichtigen Vogel ins Meer. Hey, erst mal schauen, was passiert! Das ist also die »wahre Natur« dieser liebenswerten, zum Anthropomorphisieren einladenden Pinguine. Und wenn uns das schockiert, dann verhalten sie sich zumindest rationaler – zweckgerichteter, ja altruistischer – als der grundlos Handelnde unserer eigenen Spezies, der einen Menschen aus dem Zug stößt.
    Für so einen Pinguin gibt es kein »Was-wäre-dir-lieber«. Für ihn heißt es spring oder stirb – manchmal auch spring und stirb. Und unsere eigenen »Was-wäre-dir-lieber«-Überlegungen erweisen sich bisweilen als ebenso hypothetisch: eine Methode, das Undenkbare zu simplifizieren und so zu tun, als ließe sich das Unkontrollierbare kontrollieren. Meine Mutter überlegte ganz ernsthaft, ob sie lieber taub oder blind sein wollte. Sich im Voraus eine Behinderung auszusuchen, schien ein abergläubisches Mittel zu sein, um die andere auszuschließen. Nur sollte es zu dieser »Wahl« dann nie kommen. Weder Gehör noch Sehvermögen waren von ihrem Schlaganfall betroffen – und doch pflegte sie für den Rest ihres Lebens nie wieder ihre Fingernägel.
    Mein Bruder erhofft sich Grandpas Tod: bei der Gartenarbeit vom Schlag getroffen zu werden. (Zum Kohlpflanzen à la Montaigne war es noch zu früh, er wollte gerade seinen widerspenstigen Vertikutierer in Gang setzen.) Er fürchtet die anderen Beispiele in der Familie: Grandmas lang anhaltende Senilität, Dads allmähliche Einschränkung und Demütigung, Mas halbbewussten Wahn. Dabei stehen uns – oder

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