Nichts, was man fürchten müsste
irgendeiner höheren Instanz – noch so viele andere Möglichkeiten zur Wahl, so viele verschiedene Türen, auch wenn über allen das Wort »Ausgang« steht. In dieser Hinsicht hat der Tod statt eines »Was-wäre-dir-lieber« ein Multiple-Choice-Programm mit einer üppigen Fülle demokratischer Optionen zu bieten.
Strawinski sagte: »Gogol starb schreiend und Diaghilew lachend, aber Ravel starb schrittweise. Das ist das Schlimmste.« Er hatte recht. Es gab auch gewaltsamere Künstlertode, die mit Wahnsinn, Terror und banaler Absurdität einhergingen (Webern wurde von einem GI erschossen, nachdem er höflich auf die Terrasse hinausgetreten war, um sich eine Zigarre anzuzünden), aber wenige waren so grausam wie der von Ravel. Schlimmer noch, er wurde auf merkwürdige Art vorweggenommen – wie ein musikalischer Vorhall – durch den Tod eines französischen Komponisten der vorangegangenen Generation. Emmanuel Chabrier erlag 1894 , ein Jahr nach der Pariser Premiere seines einzigen Versuchs einer ernsten Oper, Gwendoline, einer Syphilis im dritten Stadium. Es hatte zehn Jahre gedauert, bis dieses Stück – vielleicht die einzige Oper, die im Großbritannien des 18 . Jahrhunderts spielt – aufgeführt wurde, und da war Chabriers Krankheit bereits im Endstadium und sein Geist auf der Insel Nimmerland. Bei der Premiere saß Chabrier in seiner Loge, nahm den Beifall entgegen und lächelte, »fast ohne zu wissen warum«. Manchmal vergaß er, dass es seine Oper war, und flüsterte einem Nachbarn zu: »Das ist gut, das ist wirklich sehr gut.«
Diese Geschichte war den französischen Komponisten der nächsten Generation wohlbekannt. »Ist das nicht furchtbar?«, pflegte Ravel zu sagen. »In einer Aufführung von Gwendoline zu sitzen und die eigene Musik nicht zu erkennen!« Ich weiß noch, wie man meiner hochbetagten Freundin Dodie Smith die liebevolle, aufmunternde Frage stellte: »Na, Dodie, weißt du noch, dass du einmal eine berühmte Bühnenautorin warst?« Und sie antwortete: »Ja, ich glaube schon« – ungefähr in dem Ton, in dem mein Vater wahrscheinlich zu meiner Mutter gesagt hatte: »Ich glaube, du bist meine Frau.« Wenn eine Putzmacherin ihren eigenen Hut, ein Arbeiter seine eigene Bodenschwelle, eine Schriftstellerin ihre Worte, ein Maler seine Leinwand nicht mehr wiedererkennt, ist das bitter genug. Doch wenn ein Komponist seine eigenen Noten nicht erkennt, ist das für alle, die das miterleben, besonders qualvoll.
Ravel starb schrittweise – über fünf Jahre hinweg –, und das war das Schlimmste. Zuerst waren die Folgen eines Morbus Pick (einer degenerativen Erkrankung des Gehirns) zwar beängstigend, aber unspezifisch. Er musste nach Worten suchen, seine motorischen Fähigkeiten ließen nach. Er fasste die Gabel am falschen Ende an, konnte seinen Namen nicht mehr schreiben, hatte das Schwimmen verlernt. Wenn er zum Essen ausging, heftete ihm die Haushälterin vorsichtshalber seine Adresse an das Mantelfutter. Dann aber wurde die Krankheit auf bösartige Art persönlich und traf Ravel in seiner Eigenschaft als Komponist. Er ging zu einer Aufnahme seines Streichquartetts, setzte sich in die Regiekanzel und brachte verschiedene Korrekturen und Vorschläge vor. Sobald ein Satz aufgenommen war, wurde er gefragt, ob er ihn noch einmal im Ganzen hören wollte, was er verneinte. So ging die Sache schnell voran, und das Studio freute sich, dass alles an einem Nachmittag erledigt war. Am Ende wandte sich Ravel an den Produzenten (und dass wir nun schon erraten, was er gleich sagen wird, macht die Sache nicht weniger erschütternd): »Das war wirklich sehr gut. Sagen Sie mir doch, wie der Komponist heißt.« Ein andermal ging er zu einem Konzert mit seiner Klaviermusik. Er hörte sich alles mit erkennbarem Vergnügen an, doch als das Publikum ihn feiern wollte, dachte er, der Beifall gelte dem italienischen Kollegen neben ihm, und stimmte deshalb in den Applaus ein.
Ravel wurde zwei führenden französischen Neurochirurgen vorgestellt. Wieder so ein »Was-wäre-dir-lieber«. Der erste hielt seinen Zustand für inoperabel und meinte, man solle der Natur ihren Lauf lassen. Der zweite hätte das auch gesagt, wenn der Patient nicht Ravel geheißen hätte. Wenn es doch noch eine Chance gäbe, und sei sie noch so gering – ein paar Jahre mehr für ihn, ein bisschen mehr Musik für uns (was »die beste Art ist, die Zeit zu verarbeiten«) … Und so wurde der Schädel des Komponisten geöffnet und man sah,
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