Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
Vom Netzwerk:
dass die Schädigung ausgedehnt und irreparabel war. Zehn Tage darauf starb Ravel, den Kopf noch in einem Turban von Krankenhausverbänden.

    Vor etwa zwanzig Jahren wurde ich gefragt, ob ich mich für ein Buch über den Tod interviewen lassen wollte. Aus schriftstellerischen Gründen lehnte ich ab: Ich wollte nichts ausplaudern, was ich später vielleicht selbst verwenden konnte. Als das Buch dann erschien, habe ich es nicht gelesen: vielleicht aus einer abergläubischen – oder auch rationalen – Angst heraus, in einem der Beiträge könnte besser ausgedrückt sein, was ich mir erst langsam erarbeitete. Vor Kurzem habe ich vorsichtig im ersten Kapitel herumgeblättert, einem Interview mit einem gewissen »Thomas«. Allerdings war mir schon nach einer knappen Seite klar, dass dieser »Thomas« niemand anders war als mein alter Todesfreund und Willensfreiheitsvernichter G.
    Das grundlegende »Was-wäre-dir-lieber« beim Tod (und wieder eins, bei dem wir keine Wahl haben) lautet: Unwissenheit oder Wissen? Will man le réveil mortel hören oder lieber weiter unter der warmen Decke der Blindheit schlummern? Das scheint eine leichte Frage zu sein: Im Zweifel entscheidet man sich für das Wissen. Aber gerade das Wissen ist schädlich. Mit den Worten von »Thomas«/G.: »Ich glaube, wer keine Angst hat, der weiß meistens nur nicht, was der Tod bedeutet .. . Nach der gängigen Theorie der Moralphilosophie ist es ein großes Unglück, wenn ein Mensch plötzlich [in der Blüte des Lebens] dahingerafft wird; doch mir scheint, das eigentliche Unglück ist zu wissen, dass es geschehen wird. Wenn es geschähe, ohne dass man es weiß, wäre es nicht weiter schlimm.« Zumindest würde es uns jenen Pinguinen ähnlicher machen: Der Trottel, der an den Meeresrand watschelt und von einem nicht grundlosen Schubs hineingestoßen wird, mag wohl die Robbe fürchten, hat aber keinen Begriff von den ewigen Auswirkungen der Robbe.
    G. findet es nicht schwer zu verstehen oder zu glauben, dass ein Mensch in all seiner Komplexität einfach für immer verschwindet. Das gehöre nun mal zur »Verschwendung der Natur«, wie die mikrotechnische Ausstattung einer Stechmücke. »Ich stelle mir das so vor, dass die Natur gleichsam wild über das Ziel hinausschießt und ihre Gaben im Übermaß verteilt; diese Verschwendung lässt sie dann auch bei Menschen walten. Großartige Gehirne und Sensorien, millionenfach produziert und dann einfach weggeworfen, auf dass sie in der Ewigkeit verschwinden. Ich glaube nicht, dass der Mensch ein Sonderfall ist, ich glaube, die Evolutionstheorie erklärt alles. Wenn man’s recht bedenkt, ist das eine wunderschöne Theorie, eine fantastische, beflügelnde Theorie, auch wenn sie bittere Folgen für uns hat.«
    Das hört man gerne! Und vielleicht ist es mit dem Sinn für den Tod so ähnlich wie mit dem Sinn für Humor. Jeder findet den, den er hat – oder nicht hat – völlig in Ordnung und dem rechten Verständnis des Lebens angemessen. Es sind immer die anderen, die verkehrt gestrickt sind. Ich halte meinen Todessinn – der einigen meiner Freunde übertrieben vorkommt – für genau richtig. Für mich ist der Tod das erschreckende Element, durch das sich das Leben definiert; wer sich nicht ständig des Todes bewusst ist, kann das Leben nicht annähernd verstehen; wer nicht vom Verstand und vom Gefühl her begreift, dass die Tage des Weins und der Rosen nicht ewig währen, dass der Wein irgendwann oxidiert und die Rosen in ihrem stinkenden Wasser braun werden und dann – mitsamt der Vase – für immer weggeworfen werden, der hat keinen Rahmen für das Freudige und Reizvolle, das ihm auf dem Wege zum Grab begegnen kann. Aber es war ja zu erwarten, dass ich das sagen würde, nicht wahr? Meinen Freund G. hat der Tod schlimmer erwischt, also finde ich seine obsessive Beschäftigung damit übertrieben, um nicht zu sagen ungesund (ha, wo wäre sie denn, die »gesunde« Einstellung dazu?).
    Für G. gibt es nur einen Schutzmechanismus gegen den Tod – oder eher gegen die Gefahr, an nichts anderes mehr denken zu können: »Man lege sich lohnende kurzfristige Sorgen zu.« Er führt auch eine trostreiche Studie an, der zufolge die Todesangst ab dem sechzigsten Lebensjahr nachlässt. Nun, da bin ich ihm ein Stück voraus und kann berichten, dass diese Vergünstigung noch auf sich warten lässt. Erst kürzlich war es wieder da, dieses erschreckende Aufschrecken, mit dem ich mitten in der Nacht ins Bewusstsein

Weitere Kostenlose Bücher