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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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gemeinsame Erinnerung oder ein vertrautes Gesicht vergessen habe und dann allmählich vielem und schließlich allem misstraue, was ich zu wissen glaube. Ich fürchte mich vor dem Katheter und dem Treppenlift, vor dem körperlichen Verfall und dem Nachlassen der Geisteskraft. Ich fürchte mich vor dem Schicksal von Chabrier und Ravel, nicht mehr zu wissen, wer ich einmal war und was ich geschaffen habe. Vielleicht hatte der greise Strawinski deren Ende vor Augen, wenn er aus seinem Zimmer nach seiner Frau oder einem anderen Hausgenossen rief. »Was brauchst du denn?«, fragten sie dann. »Ich brauche einen Beweis, dass es mich noch gibt«, antwortete er. Und die Bestätigung kam in Form eines Händedrucks, eines Kusses oder dem Abspielen einer Lieblingsschallplatte.
    Der hochbetagte Arthur Koestler war stolz auf eine Scherzfrage, die er sich einmal ausgedacht hatte: »Was ist besser – wenn ein Schriftsteller vergessen wird, bevor er stirbt, oder wenn er stirbt, bevor er vergessen wird?« (Jules Renard wusste, wie er antworten würde: »Poil de Carotte und ich leben Seite an Seite, und ich hoffe, vor ihm zu sterben.«) Doch dieses »Was-wäre-dir-lieber« ist so durchlässig, dass sich noch eine dritte Möglichkeit einschleichen kann: Der Schriftsteller kann, bevor er stirbt, jede Erinnerung daran verloren haben, dass er einmal ein Schriftsteller war.
    Als Dodie Smith gefragt wurde, ob sie noch wisse, dass sie einmal eine berühmte Bühnenautorin war, und mit »Ja, ich glaube schon« antwortete, sagte sie das genau so – mit einer Art stirnrunzelnder Konzentration und in dem moralischen Bewusstsein, dass die Wahrheit gefordert war –, wie ich sie im Laufe der Jahre Dutzende von Fragen hatte beantworten sehen. Mit anderen Worten, sie war sich zumindest selbst treu geblieben. Das erhoffen wir uns auch für uns selbst, und daran halten wir bei allen naheliegenden Ängsten vor geistigem und körperlichem Verfall fest. Wir wollen, dass die Leute sagen: »Ach ja, er ist bis zum Schluss der Alte geblieben, auch wenn er nicht mehr sprechen/ sehen/ hören konnte.« Zwar haben Wissenschaft und Selbsterkenntnis Zweifel daran geweckt, was unsere Individualität eigentlich ausmacht, aber wir wollen doch der Persönlichkeit treu bleiben, von der wir vielleicht irrtümlicherweise annehmen, sie gehöre uns und nur uns allein.
    Erinnerung ist Identität. Das glaube ich schon seit – ach, solange ich mich erinnern kann. Man ist, was man getan hat; was man getan hat, ist in der Erinnerung gespeichert; man definiert sich durch das, woran man sich erinnert; wer sein Leben vergisst, hört auf zu existieren, noch bevor er tot ist. Ich habe einmal viele Jahre lang vergeblich versucht, eine Freundin vor einem langen alkoholischen Verfall zu retten. Ich habe aus nächster Nähe gesehen, wie sie erst ihr Kurzzeitgedächtnis, dann das Langzeitgedächtnis und damit auch fast alles dazwischen verlor. Es war ein erschreckendes Beispiel für das, was Lawrence Durrell in einem Gedicht »den Fehltritt des Geistes« nannte, einen geistigen Sündenfall. Und mit diesem Fehltritt – der Verlust spezifischer und allgemeiner Erinnerungen wurde mit absurden, meisterlichen Fabulierungen übertüncht, womit das Gehirn sich selbst und diese Freundin, aber sonst niemanden beruhigen konnte – ging ein ähnliches Fehlverhalten all derer einher, die sie kannten und liebten. Wir versuchten, an unseren Erinnerungen an sie – und damit ganz einfach auch an ihr – festzuhalten, indem wir uns einredeten, »sie« sei noch da, umnebelt zwar, doch in unverhofften Momenten der Wahrheit und Klarheit bisweilen noch zu erkennen. Immer wieder beteuerte ich, um mich selbst wie meine Gesprächspartner zu überzeugen: »Im tiefsten Innern ist sie noch ganz dieselbe.« Später wurde mir klar, dass ich mir ständig etwas vorgemacht hatte, und dieses »tiefste Innere« wurde oder war bereits im selben Maße zerstört wie die sichtbare Oberfläche. Sie war in eine Welt abgedriftet, die nur sie selbst überzeugte – allerdings machte ihre Panik deutlich, dass diese Überzeugung nur gelegentlich trug. Identität ist Erinnerung, dachte ich da; Erinnerung ist Identität.

    Sich beim Sterben treu bleiben: ein lehrreiches Beispiel. Eugene O’Kelly war mit dreiundfünfzig Jahren Präsident und Topmanager einer großen amerikanischen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Er selbst sah sich als das Muster eines Erfolgsmenschen: Ein Alphatier mit 2 0 000 An gestellten unter sich,

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