Nichts, was man fürchten müsste
Widerstand. Ein, zwei Freunde wollen sich nicht mit einem einzigen Abschiedsbesuch abspeisen lassen, einem Spaziergang im Park etwa, bei dem gemeinsame Erinnerungen wachgerufen werden. Doch als wahrer Topmanager setzt O’Kelly sich über solche sentimentalen Anwandlungen hinweg. Er sagt in bestimmtem Ton: »Ich möchte, dass es dabei bleibt. Ich habe das eigens arrangiert, damit wir eine Gelegenheit zum Abwickeln haben. Und wir haben einen perfekten Moment daraus gemacht. Damit wäre der Punkt erledigt, und wir können uns anderen Geschäften zuwenden. Wir brauchen keinen weiteren Termin. Einen perfekten Moment kann man nicht verbessern.«
Nein, ich würde das wohl auch nicht so ausdrücken. Aber ich glaube, ich bin noch nie einem Menschen wie O’Kelly begegnet. Der Plan für das »Abwickeln« mit seiner halbwüchsigen Tochter schließt einen Trip nach Prag, Rom und Venedig ein. »Wir fliegen mit einem Privatjet, der irgendwo ganz weit oben im Norden auftanken muss, und da kann Gina gleich die Inuit kennenlernen und mit ihnen Geschäfte machen.« Das ist ein Sterben, bei dem sich jemand eher zur Karikatur macht als sich treu zu bleiben. Man nimmt Abschied von seiner Tochter, aber man organisiert das so, dass sie bei der Gelegenheit gleich mit den Inuit Geschäfte machen kann? Ob man die Inuit auch darüber aufklärt, welch ehrenvolle Aufgabe ihnen bei diesem Anlass zugedacht ist?
Man mag bei so etwas spöttisch und ungläubig die Augen aufreißen. Aber O’Kelly starb eindeutig so, wie er gelebt hatte, und dieses Glück sollte uns allen zuteil werden. Ob er dabei ein wenig geschummelt hat, ist eine andere Frage. Aufgrund seines engen Terminkalenders hatte der Topmanager vordem nicht viel mit Gott zu tun; allerdings benutzte er ihn doch als eine Art Notfall-Pannenhilfe. Einige Jahre zuvor hatte man bei der prospektiven Inuit-Geschäftspartnerin eine juvenile Arthritis festgestellt, und wie sich der Vater erinnert, war er »in diesem Jahr oft in der Kirche anzutreffen«. Nun, da er selbst kurz vor seinem letzten Geschäftsabschluss steht, verweist er die Angelegenheit wieder nach oben, an die multinationale Konzern-zentrale im Himmel. Er betet und lernt zu meditieren. Er fühlt sich von »der anderen Seite« unterstützt und berichtet, es gebe »keinen Bruch zwischen dieser und der anderen Seite«. Seine Frau erklärt: »Wer die Angst besiegt, der besiegt auch den Tod« – auch wenn man am Ende natürlich nicht nicht tot ist. Als O’Kelly sein Leben aushaucht, tut er das, seinem ganz persönlichen Sherpa zufolge, mit »friedlichem Einverständnis und aufrichtiger Hoffnung«.
Psychoanalytiker erklären uns, das Sterben falle denen am schwersten, die am meisten an ihrer Persönlichkeit hängen. Als Alphatier und in Anbetracht seines Alters und seines raschen Endes hat O’Kelly sich höchst eindrucksvoll verhalten. Und vielleicht macht es Gott ja nichts aus, wenn man sich nur im Notfall an ihn wendet. Außenstehende mögen meinen, jede vernünftige Gottheit müsse sich beleidigt fühlen, wenn ihr nur so punktuell und eigennützig Beachtung geschenkt wird. Aber vielleicht sieht er das anders. Vielleicht will er in seiner Bescheidenheit nicht täglich und erdrückend auf unserem Leben lasten. Vielleicht fühlt er sich als Pannenhelfer, Versicherungsgesellschaft oder Ausputzer ja ganz wohl.
O’Kelly wollte keine Orgelmusik auf seiner Beerdigung; er entschied sich für Flöte und Harfe. Ich hatte meiner Mutter Mozart zugedacht, sie meinem Vater Bach. Wir denken lange über unsere Beerdigungsmusik nach, aber weniger über die Musik, bei der wir sterben wollen. Ich erinnere mich, wie mein Lektor Terence Kilmartin, einer meiner frühen Förderer, zu schwach zum Treppensteigen wurde und daher in einem Bett im Erdgeschoss lag, wo er sich auf einem tragbaren Ghettoblaster späte Beethoven-Streichquartette anhörte. Sterbende Päpste und Kaiser konnten ihre eigenen Chöre und Instrumentalisten herbeirufen, um sich einen Vorgeschmack auf die himmlische Herrlichkeit geben zu lassen. Nun hat die moderne Technik uns alle zu Päpsten und Kaisern gemacht; man kann zwar den christlichen Himmel ablehnen, sich aber doch von Bachs Magnificat, Mozarts Requiem oder Pergolesis Sta bat Mater innerlich erleuchten lassen, während der Körper verfällt. Sydney Smith stellte sich den Himmel so vor, dass man dort foie gras zu Trompetenklang speist – was mir immer wie eine Dissonanz und nicht wie ein harmonisches Zusammenspiel erschien.
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