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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Jedenfalls könnte man sich die geballten Blechbläser von Gounods Cäcilienmesse in die Ohren dröhnen lassen, während durch einen Schlauch Zuckerlösung in den Arm blubbert.
    Wenn mir eine auch nur annähernd anständige Zeit zum Sterben gewährt wird, wünsche ich mir vermutlich lieber Musik als Bücher. Ob dann noch Platz ist – Platz im Kopf – für die wundervollen Mühen der Literatur, die ja auch Arbeit macht: Handlung, Personen, Situation …? Nein, ich glaube, ich brauche dann Musik, passenderweise intravenös: direkt in die Blutbahn, direkt ins Herz. »Die beste Art, die Zeit zu verarbeiten« hilft vielleicht auch, den Beginn des Todes zu verarbeiten. Außerdem assoziiere ich Musik mit Optimismus. Als ich las, dass Isaiah Berlin sich im hohen Alter damit vergnügte, Konzertkarten für Monate im Voraus zu kaufen (ich sah ihn oft oben in seiner Loge in der Festival Hall sitzen), fühlte ich mich ihm sofort verbunden. Wenn man sich die Karten besorgt, ist das irgendwie eine Garantie dafür, dass man die Musik auch zu hören bekommt, und es verlängert das Leben zumindest so lange, bis der letzte Nachhall der im Voraus bezahlten Schlussakkorde erstirbt. Beim Theater würde das irgendwie nicht funktionieren.
    Das setzt allerdings voraus, dass man sich erfolgreich selbst treu bleibt. Als ich das erste Mal über mein »Bestcase«-Todesszenario nachdachte (x Monate, Zeit für 20 0 bis 250 Seiten), nahm ich das als selbstverständlich an. Ich ging davon aus, dass ich bis zum Schluss ich selbst bleiben und außerdem instinktiv darauf beharren würde, dass ich Schriftsteller bin und die Welt beschreiben und erklären will, selbst wenn ich sie gerade verlasse. Dabei kann die Persönlichkeit im Endstadium jähen Erschütterungen, Überhöhungen und Entstellungen ausgesetzt sein. Dass Bruce Chatwin schwer krank sein musste, erkannte ein Freund von ihm als Erstes daran, dass Bruce die Rechnung für das Essen übernahm, was ihm bis dahin gar nicht ähnlich sah. Wer kann vorhersehen, wie die Seele auf ihr bevorstehendes Ende reagiert?

    Montaigne starb nicht, wie er es sich erträumt hatte, beim Kohlpflanzen im Gemüsegarten. Der Tod ereilte den Skeptiker und Epikureer, den toleranten Deisten, den Schriftsteller von grenzenloser Neugier und Gelehrsamkeit, während in seinem Schlafzimmer eine Messe zelebriert wurde: just im Moment (so heißt es jedenfalls) der Elevation. Für die katholische Kirche ein beispielhafter Tod – und dennoch vergingen nicht einmal hundert Jahre, bis sie Montaignes Werke auf den Index setzte.
    Vor zwanzig Jahren habe ich sein Haus – besser gesagt, seinen Schriftstellerturm – bei Bordeaux besichtigt. Im Erdgeschoss die Kapelle, im ersten Stock das Schlafzimmer, ganz oben das Studierzimmer. Nach vierhundert Jahren ließ sich weder die Richtigkeit der Fakten noch die Echtheit der Einrichtung verifizieren, was jeder Philosoph von vornherein gewusst hätte. Da stand ein kaputter Stuhl, auf dem der große Essayist möglicherweise gesessen hat – und wenn nicht, dann eben auf einem ähnlichen. Über das Schlafzimmer hieß es in dem seidenglatten Französisch des Reiseführers, wir dürften uns »gut und gern vorstellen, dass er hier gestorben sein könnte«. Auf die Balken im Studierzimmer waren immer noch griechische und lateinische Sprüche aufgemalt, auch wenn sie vielfach aufgefrischt worden waren; dagegen war die tausendbändige Bibliothek, die Montaignes Universum darstellte, längst in alle Winde zerstreut. Selbst die Regale waren verschwunden – übrig geblieben waren nur ein paar D-förmige Metallstücke, an denen sie einst befestigt gewesen sein könnten. Das wirkte angemessen philosophisch.
    Gleich neben dem Schlafzimmer, in dem Montaigne möglicherweise sein Leben aushauchte und dabei vielleicht auf die erhobene Hostie blickte (auch wenn wir uns gut und gern vorstellen dürfen, dass er in Gedanken bei seinen Kohlköpfen war), lag eine kleine Estrade. Von dort hätte der Philosoph die Messe in der Kapelle verfolgen können, ohne seine Gedankengänge zu unterbrechen. Sieben Treppenstufen bildeten einen engen, winkligen Tunnel mit guter Akustik, der einen passablen Blick auf den Priester bot. Nachdem der Führer und die anderen Touristen weitergegangen waren, ließ mich ein Huldigungsinstinkt auf der Estrade stehen bleiben und dann diese Pseudotreppe hinunterklettern. Nach zwei Stufen rutschte ich aus und musste mich mit Händen und Füßen gegen die Mauern stemmen, um nicht

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