Nichts, was man fürchten müsste
einem prallvollen Terminkalender, Kindern, die er zu selten sah, und einer liebevollen Ehefrau, die er als seinen »ganz persönlichen Sherpa« bezeichnete. Und so schildert O’Kelly seine Vorstellung von einem »perfekten Tag«:
Ich führe ein paar persönliche Einzelgespräche mit Man danten, das macht mir immer am meisten Freude. Ich setze mich mit mindestens einem Mitarbeiter aus dem engsten Kreis zusammen. Ich telefoniere mit Partnern in New York und anderen Niederlassungen im ganzen Land, um zu se hen, was ich für sie tun kann. Ich spiele ein bisschen Feu erwehr. Manchmal erörtere ich mit einem unserer Kon kurrenten, wie wir uns gemeinsam für ein übergeordnetes Ziel unseres Berufsstands einsetzen können. Ich arbeite eine Menge Punkte auf meinem elektronischen Termin kalender ab. Und ich setze in mindestens einem der drei Bereiche etwas in Bewegung, wo ich mir Verbesserungen vorgenommen habe, als mich die Partner der Firma vor drei Jahren an die Spitze wählten: Expansion des Unter nehmens … Qualitätssteigerung und Risikoabbau; und das Allerwichtigste für mich und das langfristige Gedeihen des Unternehmens – noch bessere, ja exzellente Arbeitsbedin gungen zu schaffen, damit unsere Leute ein ausgewogene res Leben führen können.
Im Frühjahr 2005 wurde O’Kelly als »einer von 50 Topmanagern zu einem Runden Tisch von Unternehmern mit Präsident Bush ins Weiße Haus eingeladen. Wer könnte glücklicher sein in seinem Beruf als ich?«
Doch just in diesem Moment wurde O’Kelly vom Glück verlassen. Was er für vorübergehende Müdigkeit nach einer besonderen Stressphase hielt, führte zu einer leichten Erschlaffung des Wangenmuskels, dann zu dem Verdacht auf Bell-Parese und dann – plötzlich und unumstößlich – zu der Diagnose eines inoperablen Gehirntumors. Hier half auch keine Feuerwehr. Selbst die teuersten Spezialisten konnten die Wahrheit nicht abwenden: drei Monate und kaum einen Tag länger.
O’Kelly nimmt die Nachricht so auf, wie es sich für einen »zielorientierten« und an knallharten Konkurrenzkampf gewöhnten Mann gehört. »Ein erfolgreicher Manager setzt alles daran, immer so gut vorbereitet zu sein und so strategisch zu denken, wie es irgend geht, um jeden Kampf zu ›gewinnen‹, und so habe ich jetzt alles darangesetzt, in meinen letzten hundert Tagen so methodisch wie möglich vorzugehen.« Er plant, das »Instrumentarium eines Topmanagers« auf seine Situation anzuwenden. Er erkennt, dass er sich »neue Ziele setzen muss. Und zwar schnell.« Er überlegt, wie »ich mich als Person in aller Eile neu positionieren muss, um mich an die neuen Lebensumstände anzupassen«. Er stellt »die letzte und wichtigste Aufgabenliste meines Lebens« zusammen.
Prioritäten, Methoden, Ziele. Er bringt seine finanziellen und geschäftlichen Angelegenheiten in Ordnung. Er trifft Entscheidungen, um seine Beziehungen »abzuwickeln«, indem er »perfekte Momente« und »perfekte Tage« organisiert. Er läutet den »Übergang in das nächste Stadium« ein. Er plant seine eigene Beerdigung. Wettbewerbsorientiert wie immer, will er aus seinem Tod den »bestmöglichen Tod« machen und befindet nach Fertigstellung seiner Aufgabenliste: »Jetzt war ich motiviert, meinen Tod zu einem ›Erfolg‹ zu machen.«
Wer meint, hundert Tage müssten unweigerlich mit einem Waterloo enden, dem mag die Vorstellung, »den Tod zu einem Erfolg zu machen«, grotesk und sogar lachhaft erscheinen. Andererseits erscheint jeder Tod irgendwem lachhaft. (Wissen Sie, was O’Kelly tat, kurz nachdem er erfahren hatte, dass er nur noch drei Monate zu leben hatte? Er schrieb eine Kurzgeschichte! Als gäbe es davon nicht genug auf der Welt …) Und er verfasste dann – mit Hilfe eines Ghostwriters, was hier eine treffende Bezeichnung ist – das Buch, das man schreiben will, wenn man den letzten Abgabetermin vor Augen hat – das Buch über das Sterben.
O’Kelly stellt eine Liste der Freundschaften auf, die er abwickeln muss, und teilt sie in Kategorien ein. Schon bevor er zum inneren Kreis kommt, stehen erstaunlicherweise tausend Namen in seinem Buch. Doch da er daran gewöhnt ist, Geschäfte zügig in Angriff zu nehmen und abzuschließen, zieht er das in glatt drei Wochen durch: manchmal mit einer Karte oder einem Telefonanruf, bisweilen auch mit einem kurzen Treffen, das womöglich einen »perfekten Moment« enthält. Als es an das Abwickeln engerer Freundschaften geht, gibt es einzelne Fälle von menschlichem
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