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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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durch den steinernen Schacht in die Kapelle hinabzustürzen. Derart eingeklemmt, spürte ich die klaustrophobische Angst aus einem wohlbekannten Traum – dem Traum von unterirdischer Verlorenheit, von einem immer enger werdenden Schlauch oder Tunnel, von unaufhaltsam zunehmender Finsternis, von Panik und Entsetzen. Der Traum, aus dem man nicht erst aufwachen muss, um zu wissen, dass er geradewegs vom Tod handelt.
    Mir waren Träume immer verdächtig; genauer gesagt, mir war ein übersteigertes Interesse an Träumen verdächtig. Ich kannte einmal ein Ehepaar, das sich schon lange und offenkundig liebte und dessen Tage stets damit begannen, dass die Frau ihrem Mann erzählte, welche Träume sie in der Nacht gehabt hatte. Diese Gewohnheit pflegten sie hingebungsvoll noch mit über siebzig. Mir ist die äußerst lakonische Art der Traumwiedergabe meiner Frau lieber, ja, ich weiß sie ausgesprochen zu schätzen. Meine Frau wacht auf und erstattet Bericht, sei es in Form einer gnomischen Zusammenfassung – »ein Stück Wüste« – oder einer prägnant-kritischen Wertung wie »ziemlich verwirrend« oder »froh, dass ich da wieder raus bin«. Manchmal werden Darstellung und Kritik kombiniert: »Indische Träume wie ein langer, weitschweifiger Roman.« Dann schläft sie wieder ein und vergisst das Ganze.
    Das scheint mir Träume ins rechte Verhältnis zu rücken. Als ich anfing, fiktionale Literatur zu schreiben, stellte ich zwei Regeln für mich auf: keine Träume und kein Wetter. Als Leser hatte ich mich schon lange über »bedeutsame« meteorologische Verhältnisse – Sturmwolken, Regenbogen, fernes Donnergrollen – geärgert und mich von »bedeutsamen« Träumen, Vorahnungen, Erscheinungen und so weiter gelangweilt gefühlt. Ich hatte sogar vor, meinen ersten Roman Kein Wetter zu nennen. Aber es dauerte so lange, bis das Buch fertig war, dass der Titel am Ende bemüht witzig wirkte.
    Ich träume etwa so oft vom Tod, wie man erwarten kann. Manchmal handeln diese Träume vom Begrabenwerden samt unterirdischem Eingeschlossensein und enger werdenden Tunneln; ein andermal rollt ein handlungsreicheres Kriegsfilm-Szenario ab – ich werde gejagt, umzingelt, sehe mich einer schwer bewaffneten feindlichen Übermacht gegenüber, bin wehrlos, werde als Geisel genommen, zu Unrecht zum Tod durch Erschießen verurteilt, erfahre, dass mir noch weniger Zeit bleibt als gedacht. So das Übliche halt. Ich war erleichtert, als vor ein paar Jahren endlich eine thematische Variation eintrat: Ich melde mich im Traum in einer Selbstmordpension in einem Land an, das sich Todessuchenden gegenüber tolerant zeigt. Ich habe die Formulare unterschrieben und meine Frau hat eingewilligt – sei es, sich dem Unternehmen anzuschließen oder, häufiger noch, mich zu begleiten und zu unterstützen. Doch als ich dort ankomme, finde ich das Haus unendlich deprimierend – billige Möbel, ein schäbiges Bett, das den Gestank früherer und künftiger Bewohner ausdünstet, gelangweilte Apparatschiks, die mich wie einen bürokratischen Routinefall behandeln. Ich erkenne, dass meine Entscheidung falsch war. Ich will hier nicht enden (und gar nicht erst einziehen), ich habe einen Fehler gemacht, das Leben hat noch viel Interessantes und ein bisschen Zukunft zu bieten; doch schon als ich das denke, wird mir bewusst, dass ich nicht mehr zurückkann, wenn dieser Prozess einmal angelaufen ist, den ich mit meiner Unterschrift in Gang gesetzt habe, und ja, ich werde in ein paar Stunden, wenn nicht Minuten tot sein, denn jetzt gibt es absolut kein Entrinnen mehr, keinen denkbaren Koestler’schen »schlauen Trick«, der mich da rausholen könnte.
    Ich war zwar nicht gerade stolz auf diesen neuen Traum, aber doch erfreut, dass mein Unterbewusstsein sich noch aktualisierte, noch Schritt hielt mit den Entwicklungen auf der Welt. Weniger erfreut war ich, als ich im letzten Buch des Lyrikers D. J. Enright, Injury Time, entdeckte, dass er fast genau denselben Traum gehabt hatte. Die Institution, bei der er untergekommen war, hörte sich etwas eleganter an als meine, doch wie in der Traumlandschaft eines Melancholikers üblich, musste zwangsläufig etwas schiefgehen. In seinem Fall war der Selbstmordpension das Giftgas ausgegangen. Darum sollten Enright und seine Frau nunmehr per Minibus in das örtliche Postamt überführt werden, und er hatte die – nur allzu verständliche – Befürchtung, dort dürften die Anlagen weniger human und weniger effektiv

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