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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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sein.
    Bei näherer Überlegung machte mir die Synchronizität nicht allzu viel aus (es wäre eine merkwürdige Form von Eitelkeit, Besitzansprüche auf Träume anzumelden). Eher bestürzte mich, dass ich an anderer Stelle in Enrights Buch auf folgendes Zitat stieß: »Ich hätte eigentlich nichts gegen das Sterben, wenn darauf nicht der Tod folgte.« Aber das hab ich doch zuerst gesagt, dachte ich – ich sage das schon seit Jahren und habe es auch geschrieben. Da, hier steht es in meinem ersten Roman, der nicht Kein Wetter heißt: »Sterben würde mir überhaupt nichts ausmachen, wenn ich nur nicht am andern Ende tot rauskäme.« (Beim Wiederlesen dieses Satzes frage ich mich, ob das Bild »am anderen Ende tot rauskommen« nicht etwas schief ist. Im Zweifelsfall würde ich wohl argumentieren, dass damit die Endgültigkeit dieses Vorgangs bewusst betont werden sollte. Ob das stimmt, weiß ich nicht mehr.) Und wen zitiert Enright nun? Einen gewissen Thomas Nagel in einem Buch mit dem Titel Letzte Fragen. Ich schaue bei Google nach: Professor der Philosophie und Rechtswissenschaft an der New York University; Erscheinungsjahr seines Buchs 1979 ; Erscheinungsjahr meines Buchs 1980 . Verdammt. Ich könnte damit kontern, dass ich schon acht oder neun Jahre früher mit der Arbeit an meinem Buch angefangen hatte, aber das wäre etwa so überzeugend wie ein Traumprotest in einer Selbstmordpension. Und bestimmt ist auch vor uns beiden schon jemand auf diesen Spruch gekommen. Wahrscheinlich einer von diesen alten Griechen, die mein Bruder so gut kennt.
    Vielleicht haben Sie bemerkt – vielleicht sogar mitleidig bemerkt –, mit welcher Vehemenz ich geschrieben habe »Aber das hab ich doch zuerst gesagt«. Ich, das nachdrückliche, emphatische, kursiv geschriebene Ich. Das Ich, an dem ich so animalisch hänge, das Ich , von dem man Ab schied nehmen muss. Und doch ist dieses Ich  – oder auch nur sein alltäglicher, nicht kursiv geschriebener Schatten – nicht das, wofür ich es halte. Etwa zu der Zeit, als ich dem College-Geistlichen versicherte, ich sei ein glücklicher Atheist, war ein Ausdruck im Schwange: die Integrität der Persönlichkeit. Daran glauben wir doch, wir Dilettanten unseres eigenen Daseins, nicht wahr? Dass das Kind der Vater oder die Mutter des Mannes oder der Frau ist; dass wir langsam, aber sicher wir selbst werden und dass dieses Selbst dann eine Kontur, Klarheit, Identifizierbarkeit, Integrität hat. Durch unser Leben formen und erlangen wir einen einmaligen Charakter und hoffen, uns beim Sterben selbst treu bleiben zu dürfen.
    Doch die Gehirnkartografen, die in die Geheimnisse unseres Kopfes eingedrungen sind, die alles in lebhaften Farben darstellen, die dem Pulsieren von Gedanken und Gefühlen folgen können, sagen uns, dass da oben gar niemand ist. Es gibt keinen Geist in der Maschine. Das Gehirn ist, mit den Worten eines Neuropsychologen, nicht mehr und nicht weniger als »ein Klumpen Fleisch« (nicht, was ich Fleisch nennen würde – aber mit Innereien kenn ich mich nicht so aus). Ich – oder gar ich  – bringe keine Gedanken hervor; die Gedanken bringen mich hervor. Die Gehirnkartografen können noch so viel schauen und grübeln, sie kommen immer nur zu dem Schluss, dass »eine ›Ich-Materie‹ sich nicht lokalisieren lässt«. Und so ist unsere Vorstellung von einem beständigen Selbst, Ego, Ich oder Ich  – von einem lokalisierbaren ganz zu schweigen – wieder so eine Illusion, mit der wir leben. Die Egotheorie – von der wir so lange und selbstverständlich gezehrt haben – sollte durch eine Bündeltheorie ersetzt werden. Die Vorstellung von einem zerebralen U-Bootkapitän, der alle Ereignisse im Leben des Menschen souverän organisiert, muss der Vorstellung weichen, dass wir nichts als eine Abfolge von Gehirnereignissen sind, die von gewissen Kausalverbindungen zusammengehalten werden. Um es abschließend und niederschmetternd (wenn auch literarisch) auszudrücken: Das »Ich«, das wir so lieben, ist eigentlich nur eine grammatische Kategorie.
    Nachdem ich in Oxford das Studium der Neueren Philologie aufgegeben hatte, belegte mein altmodisches Ich ein paar Semester lang Philosophie, bis man ihm sagte, dass es nicht das geeignete Gehirn dafür habe. Ich lernte jede Woche, was ein Philosoph über die Welt dachte, und in der Woche darauf, warum diese Ansichten falsch waren. Jedenfalls kam es mir so vor, und ich wollte die Sache abkürzen: Was ist denn nun wirklich wahr?

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