Nichts, was man fürchten müsste
Doch in der Philosophie ging es anscheinend mehr um den Prozess des Philosophierens als um den Zweck, den ich ihr im Voraus zugeschrieben hatte: uns zu sagen, was die Welt im Innersten zusammenhält und wie wir am besten auf dieser Welt leben sollen. Diese Erwartungen waren sicher naiv, und ich hätte nicht so enttäuscht sein dürfen, als die Moralphilosophie, weit von jeder unmittelbaren Anwendbarkeit entfernt, mit einer Debatte darüber begann, ob »Gutheit« so etwas wie »Gelbheit« sei. Und so überließ ich die Philosophie, zweifellos klugerweise, meinem Bruder und wandte mich wieder der Literatur zu, die uns damals wie heute am besten erklärt, was die Welt im Innersten zusammenhält. Sie kann uns auch sagen, wie man am besten auf dieser Welt lebt, sagt das aber am wirkungsvollsten, wenn sie es anscheinend nicht tut.
Eine der vielen, nur bis zur nächsten Woche gültigen Versionen der Welt, die ich lernte, war die von George Berkeley. Er vertrat die Meinung, die Welt der »Häuser, Berge, Flüsse, mit einem Wort, aller sinnlichen Objekte« bestehe voll und ganz aus Ideen oder Sinnesempfindungen. Was wir gern für die reale Welt um uns herum halten, dinglich, greifbar, linear in der Zeit, sind nur persönliche Bilder – eine Frühform des Kinos –, die in unserem Kopf ablaufen. Eine derartige Weltsicht war ihrer eigenen Logik nach unwiderlegbar. Ich weiß noch, wie ich mich später über die Antwort der Literatur auf die Philosophie freute: Dr. Johnson trat gegen einen Stein und rief: »Das widerlege ich so!« Man tritt gegen einen Stein, man spürt seine Härte, seine Solidität, seine Realität. Der Fuß tut weh, und das ist der Beweis. Der Theoretiker wird durch den gesunden Menschenverstand besiegt, auf den wir als Briten so stolz sind.
Wie wir jetzt wissen, war der Stein, gegen den Dr. Johnson trat, ganz und gar nicht solide. Die meisten soliden Gegenstände bestehen vor allem aus leerem Raum. Selbst die Erde ist bei Weitem nicht solide, wenn wir unter solide undurchdringlich verstehen: Es gibt winzige Partikel, Neutrinos genannt, die geradewegs hindurchdringen können, von einer Seite zur anderen. Neutrinos können Dr. Johnsons Stein mühelos durchdringen und haben das auch getan; sogar Diamanten, für uns der Inbegriff von Härte und Undurchdringlichkeit, sind in Wirklichkeit krümelig und voller Löcher. Da Menschen nun aber keine Neutrinos sind und es ausgesprochen sinnlos wäre, wenn wir einen Felsen durchdringen wollten, teilt unser Gehirn uns mit, dass der Felsen solide ist. Für unsere Zwecke und nach unseren Begriffen ist der Fels solide. Das ist zwar nicht wahr, aber diese Information ist für uns nützlich. Der gesunde Menschenverstand erhebt die Nützlichkeit zu einer künstlichen, aber praktischen Wahrheit. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, wir seien Individuen mit (meist integrierter) Persönlichkeit und unsere Mitmenschen auch. Es wird noch eine Weile dauern, bis wir uns zum Beispiel unsere Eltern als Bündel von genetischem Material ohne jede »Ich-Materie« vorstellen und nicht als die dramatischen oder komischen (oder grausamen oder langweiligen) und von Ich-Materie nur so strotzenden Figuren in den Geschichten, in die wir unser Leben verwandeln.
Mein Vater erkrankte mit Anfang fünfzig an Morbus Hodgkin. Er fragte die Ärzte nicht, was er hatte, und darum sagte man es ihm auch nicht. Zwanzig Jahre lang ging er zu den Behandlungen und den allmählich seltener werdenden Kontrolluntersuchungen, ohne je zu fragen. Meine Mutter hatte am Anfang gefragt, und man hatte es ihr gesagt. Ob man sie auch wissen ließ, dass Morbus Hodgkin damals ausnahmslos tödlich verlief, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich wusste, dass Dad irgendeine Krankheit hatte, doch da er von Natur aus ein taktvoller Mensch und jedem melodramatischen Getue und Selbstmitleid abhold war, machte ich mir keine Sorgen um ihn und hielt ihn auch nicht für ernsthaft krank. Ich glaube, meine Mutter hat es mir etwa zu der Zeit erzählt – und mich Verschwiegenheit schwören lassen –, als ich meinen Führerschein machte. Überraschenderweise starb mein Vater nicht. Er übte weiter seinen Beruf als Lehrer aus, bis er pensioniert wurde, und danach zogen meine Eltern aus ihrem Londoner Vorort an eine zur »Ortschaft« hochgejubelte Straßenkreuzung in Oxfordshire, wo sie bis zu ihrem Tod wohnten. Meine Mutter fuhr Dad immer zu seinen alljährlichen Untersuchungen nach Oxford. Nach ein paar Jahren wechselte sein
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