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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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irische Beerdigungen: die Anzahl der Trauergäste, das öffentliche Wehklagen und die Witwe, die von anderen gestützt werden muss. (Meine Mutter war nie in Irland gewesen, geschweige denn auf einer Beerdigung dort.) »Meinen die, ich brauche jemanden, der mir Beistand leistet?«, fragte sie höhnisch. Doch als der Bestattungsunternehmer kam, um ihre Wünsche zu besprechen – den schlichtesten Sarg, nur einen Zweig Rosen ohne Schleife und auf keinen Fall Zellophan –, unterbrach sie ihn einmal und sagte: »Denken Sie ja nicht, ich würde weniger um ihn trauern, weil …« Diesmal musste sie ihren Satz nicht beenden.
    Als Witwe sagte sie zu mir: »Ich habe mein Leben hinter mir.« Es wäre sinnlos gewesen, ihr höflich zu widersprechen und ein »Ja, aber« vorzubringen. Einige Jahre zuvor hatte sie in Dads Beisein zu mir gesagt: »Dein Vater hatte ja immer mehr für Hunde übrig als für Menschen.« Mein auf diese Weise herausgeforderter Vater bestätigte das mit einer Art Nicken, was ich – vielleicht irrtümlich – als Seitenhieb gegen sie auffasste. (Ich dachte auch daran, dass sie trotz dieses Wissens in den rund vierzig Jahren nach dem Verschwinden von Maxim: le chien nie wieder einen Hund haben wollte.) Und viele, viele Jahre früher, als ich noch jung war, hatte sie gesagt: »Wenn ich noch mal von vorn anfangen könnte, würde ich meinen eigenen Weg gehen«, was ich damals nur als einen Seitenhieb gegen meinen Vater auffasste, da mir nicht in den Sinn kam, dass auf jedem anderen und eigenen Weg auch ihre Kinder verschwunden wären. Vielleicht stelle ich jetzt einen falschen Zusammenhang zwischen diesen Aussagen her. Und es hat auch nichts zu bedeuten, dass meine Mutter nicht vor Kummer starb, sondern fünf Jahre lang ihren eigenen Weg gehen durfte, als sie sich kaum noch bewegen konnte.
    Einige Monate nach dem Tod meines Vaters telefonierte ich mit meiner Mutter. Ich erzählte ihr, dass wir Freunde zum Essen erwarteten, und dabei kam heraus, dass ich den einen Gang kochen würde und meine Frau den anderen. Wenn ich je einen Hauch von Wehmut in ihrer Stimme hörte, dann bei ihrer Antwort: »Das muss schön sein, wenn ihr beide zusammen kocht.« Dann verfiel sie wieder in einen weitaus typischeren Ton: »Deinen Vater konnte ich nicht mal den Tisch decken lassen.« – »Tatsächlich?« – »Nein, er hat die Sachen einfach irgendwo hingeknallt. Genau wie seine Mutter.« Seine Mutter! Die Mutter meines Vaters war seit fast einem halben Jahrhundert tot; Dad war damals als Soldat in Indien gewesen. Von Granny Barnes wurde bei uns zu Hause nur selten gesprochen, denn die Familie meiner Mutter ging, ob tot oder lebendig, immer vor. »Ach«, sagte ich und versuchte, mir meine brennende Neugier nicht anmerken zu lassen. »War die auch so?« – »Ja«, antwortete meine Mutter und förderte einen fünfzig Jahre alten Snobismus zutage. »Sie legte die Messer immer verkehrt herum.«
    Ich stelle mir die geistige Tätigkeit meines Bruders als eine Folge von einzelnen, miteinander verknüpften Gedanken vor, während meine von einer Anekdote zur anderen holpern. Aber er ist ja auch Philosoph und ich schreibe Romane, und ein Roman kann noch so raffiniert strukturiert sein, er muss doch den Anschein des Holperns erwecken. Das Leben holpert. Und meinen Anekdoten darf man nicht allzu sehr trauen, schließlich stammen sie von mir. Würde ein anderer Anekdotenerzähler über die letzten Jahre meiner Eltern berichten, dann würde er womöglich darauf hinweisen, wie liebevoll und tatkräftig meine Mutter für meinen Vater sorgte, wie viel Kraft es sie kostete, mit ihm zurechtzukommen, und dass sie sich trotzdem die ganze Zeit über höchst eindrucksvoll um Haushalt und Garten kümmerte. Und auch das wäre wahr, selbst wenn ich nicht umhinkonnte, eine grammatikalische Veränderung in Bezug auf den Garten zu bemerken. In den letzten Monaten, als Dad im Krankenhaus lag, wurden die Tomaten, die Bohnen und alles andere im Gewächshaus wie in den Beeten in »meine Tomaten«, »meine Bohnen« und so weiter umgetauft, als wäre Dad schon vor seinem Tod enteignet worden.
    Dieser andere Anekdotenerzähler könnte auch beklagen, wie unfair es ist, wenn ein Sohn seine ganz und gar nicht verbrecherische Mutter in einer Erzählung als prügelnde Ehefrau darstellt. (Renard musste feststellen, dass in Chitry-les-Mines eine Ausgabe von Poil de Carotte herumging, in die ein Unbekannter geschrieben hatte: »Zufällig in einer Buchhandlung

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