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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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uns ein Englischlehrer – nicht der, der sich später umbrachte, sondern einer, bei dem wir König Lear lasen und dabei lernten, dass Reifsein alles ist – mit einer gehörigen Portion Selbstgefälligkeit, er habe seine eigenen letzten Worte, vielmehr sein letztes Wort bereits ausformuliert. Er wollte schlicht und einfach sagen: »Verdammt!«
    Dieser Lehrer traute mir nie so recht über den Weg. »Barnes«, stellte er mich einmal nach einer unbefriedigend verlaufenen Stunde zur Rede, »Sie sind hoffentlich nicht so ein verfluchter Zyniker von der letzten Bank.« Ich, Sir? Ein Zyniker, Sir? Aber nein – ich glaube an süße kleine Lämmlein und Frühlingsblümchen und das Gute im Menschen, Sir. Doch selbst ich fand dieses geplante Abschiedswort an sich selbst ziemlich elegant, und Alex Brilliant auch. Wir waren a) beeindruckt von diesem geistreichen Einfall, b) überrascht, dass dieser alte, vertrottelte Schullehrer zu solcher Selbsterkenntnis fähig war, und c) entschlossen, unser eigenes Leben auf eine Weise zu gestalten, dass nicht so ein verbales Fazit dabei herauskam. Hoffentlich hatte Alex das vergessen, als er sich zehn Jahre später wegen einer Frau mit Tabletten das Leben nahm.
    Durch einen seltsamen gesellschaftlichen Zufall erfuhr ich etwa zur selben Zeit vom Ende dieses Schullehrers. Er hatte einen Schlaganfall gehabt, durch den er gelähmt und der Sprache beraubt war. Ab und zu bekam er Besuch von einem alkoholsüchtigen Freund, der – wie alle Alkoholiker überzeugt, jeder wäre gleich viel besser drauf, wenn er etwas intus hätte – eine Flasche Whisky in das Pflegeheim zu schmuggeln und den Inhalt dem alten Lehrer in den Mund zu gießen pflegte, während dieser ihn aus leeren Augen anstarrte. Blieb ihm vor seinem Schlaganfall noch Zeit für sein letztes Wort, oder konnte er sich noch daran erinnern, wenn er so dalag und Schnaps in den Mund geschüttet bekam? Bei solchen Überlegungen wird man leicht zu einem verfluchten Zyniker von der letzten Bank.
    Die moderne Medizin hat die Sterbephase verlängert und damit die berühmten letzten Worte mehr oder weniger abgeschafft; schließlich hängt alles davon ab, dass der Sprecher weiß, wann der Zeitpunkt für diese Worte gekommen ist. Wer sie bei seinem Abgang unbedingt loswerden will, könnte wohl seinen Spruch aufsagen und dann mit Absicht in mönchisches Schweigen verfallen, bis alles vorbei ist. Berühmte letzte Worte hatten aber immer etwas Heroisches an sich, und da wir nicht mehr in heroischen Zeiten leben, können wir diesen Verlust wohl verschmerzen. Freuen wir uns stattdessen an weniger bombastischen und dennoch charaktervollen letzten Worten. Francis Steegmuller sagte wenige Stunden vor seinem Tod in einem neapolitanischen Krankenhaus (wahrscheinlich auf Italienisch) zu einem Pfleger, der sein Bett hochkurbelte: »Sie haben schöne Hände.« Ein letztes, bewundernswertes Wahrnehmen eines glücklichen Moments beim Betrachten der Welt, auch wenn man sie gerade verlässt. A. E. Housmans letzte Worte galten einem Arzt, der ihm eine letzte – und vielleicht bewusst ausreichende – Morphiumspritze gab: »Sehr schön gemacht.« Es muss auch nicht immer feierlich zugehen. Renard berichtet in seinen Tagebüchern vom Tod Toulouse-Lautrecs. Dessen Vater, der als Exzentriker bekannt war, kam seinen Sohn besuchen, und statt sich um den Patienten zu kümmern, begann er sogleich die im Krankenzimmer herumschwirrenden Fliegen einzufangen. Der Maler sagte in seinem Bett: »Du dämliches altes Schwein«, dann sank er um und verstarb.

    Der französische Staat ließ traditionell nur zwei Arten menschlicher Wesen auf seinem Territorium zu: die Lebenden und die Toten. Dazwischen gab es nichts. Wer am Leben war, durfte herumspazieren und Steuern zahlen. Wer tot war, musste sich entweder beerdigen oder einäschern lassen. Man könnte das für eine typisch bürokratische, um nicht zu sagen überflüssige Kategorisierung halten. Doch vor rund zwanzig Jahren mussten sich die Gerichte damit beschäftigen, ob sie rechtlich haltbar ist.
    Als eine Frau in mittleren Jahren an Krebs zu sterben drohte, ließ ihr Mann sie einfrieren und brachte sie in einer Kühlanlage unter. Der französische Staat wollte nicht hinnehmen, dass sie etwas anderes als tot war, und verlangte von dem Mann, sie entweder beerdigen oder einäschern zu lassen. Der Mann führte den Prozess durch alle Instanzen und erhielt schließlich die Erlaubnis, seine Frau im Keller seines Hauses

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