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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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entdeckt. Ein Buch, in dem er seine Mutter schlechtmacht, um sich an ihr zu rächen.«) Und dass es ungehörig ist, wenn ein Sohn den körperlichen Verfall seines Vaters schildert; dass das im Widerspruch zu seiner angeblichen Zuneigung steht; und dass der Sohn sich unbequemen Wahrheiten nicht stellen kann, ohne sie ins Würdelose und Lächerliche zu ziehen, wie bei der Geschichte von dem verwirrten alten Mann, der in seinen elektrischen Rasierapparat pinkeln will. Auch da wäre vielleicht etwas Wahres dran. Die Sache mit dem Rasierapparat ist allerdings komplizierter, und ich möchte das Verhalten meines Vaters hier als beinahe vernünftig verteidigen. Er hatte sich sein Leben lang mit Pinsel und Rasierklinge rasiert, und der Schaum kam im Laufe der Jahrzehnte aus einer Schüssel, einem Stück Rasierseife, einer Tube und einer Dose. Meine Mutter konnte die Sauerei, die er im Waschbecken machte, nie leiden, was in unserem hundelosen Haushalt mit dem Ausdruck »Hier sieht’s ja aus wie im Hundestall« getadelt wurde. Als dann elektrische Rasierapparate aufkamen, wollte sie Dad deshalb beharrlich zu so einem Gerät überreden. Er weigerte sich standhaft: Auf diesem Gebiet ließ er sich nichts sagen. Ich weiß noch, wie meine Mutter und ich ihn während seiner ersten Zeit im Krankenhaus einmal bei einem hoffnungslosen Rasierversuch antrafen: Mit kraftlosen Handgelenken, einer stumpfen Klinge und unzulänglichem Schaum wollte er sich für unseren Besuch fein machen. Doch in seinen letzten Jahren hatte ihre Kampagne offenbar irgendwann Erfolg – vielleicht, weil seine Beine zu schwach wurden und er nicht mehr am Waschbecken stehen konnte. Daher kann ich mir vorstellen, wie sehr er sich über diesen elektrischen Rasierapparat ärgerte (den, wie ich mir gleichfalls vorstelle, sie ihm gekauft hatte). Er muss ihm wohl seine verlorene Körperkraft deutlich gemacht und zugleich als Beweis seiner endgültigen Niederlage in einem langwierigen Ehestreit gegolten haben. Wie sollte man da nicht hineinpinkeln wollen?
    »Ich glaube, du bist meine Frau.« Ja, sich selbst treu zu bleiben: das hoffen wir, daran halten wir fest, während wir in eine Zukunft schauen, in der alles zusammenbricht.
    Darum – und das war ein langer Umweg zu einer Antwort – bezweifle ich, dass ich einmal, wenn meine Stunde schlägt, Trost in der Theorie suche, dass eine Illusion sich von einer Illusion verabschiedet, ein Zufallsbündel sich entbündelt. Ich werde dem treu bleiben wollen, was ich hartnäckig für mein Ich halte. Francis Steegmuller, der Strawinskis Beerdigung in Venedig beigewohnt hatte, starb im selben Alter wie der Komponist. In den letzten Wochen seines Lebens fragte er seine Frau, die Schriftstellerin Shirley Hazzard, wie alt er sei. Sie sagte, er sei achtundachtzig. »Mein Gott«, antwortete er. »Achtundachtzig. Wusste ich das?« Das sieht ihm absolut ähnlich – »wusste« klingt doch ganz anders als »weiß«.

    »Wenn ich ein Skribent wäre«, schrieb Montaigne – wobei unklar bleibt, ob er sich für etwas Besseres oder Schlechteres hielt –, »würde ich ein Kompendium der verschiedenen Todesarten des Menschen zusammenstellen. (Wer die Menschen sterben lehrt, der lehrt sie auch leben.) Dikaiarchos hat tatsächlich ein Buch mit diesem Titel geschrieben, aber zu einem anderen und weniger nützlichen Zweck.«
    Dikaiarchos war ein peripatetischer Philosoph, dessen Schrift über das Sterben der Menschen nicht erhalten ist, was bei dem Thema nicht weiter verwundert. Eine Kurzfassung von Montaignes skribentischer Anthologie wäre eine Sammlung berühmter letzter Worte. Hegel sagte auf dem Sterbebett: »Nur ein Mensch hat mich je verstanden«, um dann fortzufahren: »Und auch der hat mich nicht verstanden.« Emily Dickinson sagte: »Ich muss hinein. Die Nebel steigen.« Der Grammatiker Père Bouhours sagte: » Je vas, ou je vais mourir: l’un ou l’autre se dit.« (Etwa: »Ich sterbe bald oder ich werde bald sterben: beides ist korrekt.«) Ein letztes Wort kann manchmal auch eine letzte Geste sein: Mozart soll mimisch das Schlagen der Kesselpauken in seinem Requiem nachgeahmt haben, dessen unvollendete Partitur aufgeschlagen auf seiner Bettdecke lag.
    Beweist das, dass sich hier ein Mensch im Sterben treu geblieben ist? Oder sind uns diese Worte grundsätzlich verdächtig, weil sie sich wie eine Pressemitteilung, eine Agenturmeldung, eine geplante Improvisation anhören? Als ich sechzehn oder siebzehn Jahre alt war, erzählte

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