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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Entitäten dazu verhalten, ist eine Illusion. Wenn das wirklich stimmt, dann kann ich daraus nur den einen Trost ziehen, dass ich mich nicht so sehr hätte schämen müssen, als ich im Spiel gegen die Slough Labour Party fünf Tore durchgelassen habe. Da hat einfach das Universum seine Arbeit gemacht.
    Die Bewusstseinsexpertin wurde auch gefragt, wie sie ihren eigenen Tod sehe. Ihre Antwort war: »Ich würde ihn mit Gleichmut betrachten, einfach als einen weiteren Schritt auf dem Wege. ›Ach, sieh mal an – ich bin hier bei Ihnen im Rundfunkstudio – was für ein wunderbarer Ort. Ach, hier bin ich auf meinem Sterbebett – hier bin ich nun also …‹ Ich meine, diese Betrachtungsweise führt im Idealfall zur Akzeptanz. Schöpfe das Leben hier und jetzt voll aus – tue dein Bestes, und wenn Sie mich fragen warum – ich weiß es nicht. Da stellt sich die Frage nach der letztendlichen Moral – aber trotzdem, das tut dieses Ding eben. Und ich erwarte, dass es das auch auf seinem Sterbebett tut.«
    Ist es eine angemessen philosophische oder eine seltsam unbekümmerte Annahme, die Akzeptanz – nach Kübler-Ross die fünfte und letzte Phase des Sterbens – werde sich einstellen, wenn man sie braucht? Man kann Nichtwahrhabenwollen, Zorn, Verhandeln und Depression überspringen und direkt auf Akzeptanz vorrücken? Außerdem finde ich »Ach, hier bin ich auf meinem Sterbebett – hier bin ich nun also« als die letzten Worte der Zukunft ein wenig enttäuschend (und zum Beispiel das »Sorg dafür, dass Ben meine Aristoteles-Gesamtausgabe von Bekker bekommt« meines Bruders immer noch besser). Ich weiß auch nicht recht, ob ich einem Menschen voll und ganz trauen kann, der ein Rundfunkstudio einen »wunderbaren Ort« nennt.
    »Das tut dieses Ding eben. Und ich erwarte, dass es das auch auf seinem Sterbebett tut.« Man beachte das Hinscheiden des Personalpronomens. »Ich« ist zu »es« und »diesem Ding« mutiert, ein ebenso erschreckender wie lehrreicher Wechsel. Wenn das Wesen des Menschen neu gedacht wird, muss auch die Sprache des Menschen neu gedacht werden. An einem Ende des Spektrums steht die Welt der Charakterzeichnung eines Porträtschreibers für Zeitungen – eine feststehende Skala von Adjektiven, illustriert mit ein paar pikanten Anekdoten; am anderen Ende des Spektrums die der Philosophen und Hirnforscher – kein U-Bootkapitän im Turm und ringsumher ein Meer von freier Assoziation. Irgendwo dazwischen liegt die Alltagswelt des zweifelnden gesunden Menschenverstands oder der ganz gewöhnlichen Nützlichkeit, und dort ist auch der Romanschriftsteller zu finden, dieser professionelle Beobachter des Dilettantismus des Lebens.
    In Romanen (auch meinen eigenen) werden Menschen so dargestellt, als hätten sie eine im Wesentlichen begreifbare, wenn auch manchmal nicht leicht zu fassende Persönlichkeit und erkennbare Beweggründe – erkennbar für uns, wenn auch nicht unbedingt für sie. Das ist eine subtilere, wahrheitsgetreuere Version der Arbeitsweise der Porträtschreiber. Aber wenn das eigentlich überhaupt nicht stimmt? Da würde ich wohl mit der automatischen Verteidigung A kommen: Da die Menschen sich als mit einem freien Willen, einem gefestigten Charakter und im Großen und Ganzen in sich stimmigen Überzeugungen ausgestattet denken, sollte ein Romancier sie auch so darstellen. Doch in ein paar Jahren wirkt das vielleicht wie die naive Rechtfertigung eines irregeleiteten Humanisten, der mit den logischen Konsequenzen des modernen Denkens und der modernen Wissenschaft nicht zurande kommt. Noch bin ich nicht bereit, mich – oder Sie oder eine Figur in meinen Romanen – als einen gestreuten neuronalen Prozess anzusehen, geschweige denn ein »ich«, ein »er« oder ein »sie« durch ein »es« oder »dieses Ding« zu ersetzen; aber ich gebe zu, dass der Roman im Moment hinter der mutmaßlichen Realität zurückbleibt.

    Flaubert meinte, man müsse alles erlernen, vom Sprechen bis zum Sterben. Doch wer kann uns das Sterben lehren? Es gibt per definitionem keine alten Profis, mit denen wir das üben könnten. Vor Kurzem war ich bei meiner Hausärztin. Ich gehe schon seit zwanzig Jahren zu ihr, treffe sie aber häufiger im Theater oder im Konzert als in ihrer Praxis. Diesmal sprachen wir über meine Lunge, beim letzten Mal über die Sechste Symphonie von Prokofjew. Sie fragt, was ich so mache; ich sage, dass ich über den Tod schreibe; sie sagt, sie auch. Als sie mir ihren Aufsatz über das

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