Nichts, was man fürchten müsste
Thema zumailt, bekomme ich erst einmal einen Schreck: Da stehen haufenweise literarische Verweise. Hey, das ist doch mein Gebiet, denke ich mit konkurrenzängstlichem Grummeln. Dann fällt mir ein, dass das normal ist: »Angesichts des Todes kehren wir unser Buchwissen heraus.« Und zum Glück überschneiden sich ihre Quellen (Beckett, T. S. Eliot, Milosz, Sebald, Heaney, John Berger) kaum mit meinen.
An einer Stelle beschäftigt sie sich mit Fayum-Porträts, diesen koptischen Bildnissen, die auf das moderne Auge wie ausgesprochen realistische Darstellungen individueller Menschen wirken. Sicher waren sie das auch; allerdings wurden sie nicht als Wandschmuck für dieses Leben gemalt. Wie diese kykladischen Statuen dienten sie ganz und gar praktischen Zwecken beim Begräbnis: Sie sollten einem mumifizierten Leichnam beigegeben werden, damit die Geister der Toten den Neuankömmling im Jenseits erkennen konnten. Nur hat sich das Jenseits leider als das Diesseits mit ein paar zusätzlichen Jahrhunderten erwiesen, und die dort herrschenden Geister und Porträtbetrachter sind wir – eine sehr kümmerliche Ausgabe der Ewigkeit.
Es muss ein seltsames Zusammenspiel gewesen sein zwischen einem Modell, das sich auf den Tod vorbereitet, und einem Künstler, der die einzige bildliche Darstellung dieser Person erschafft. Ging es da praktisch und geschäftsmäßig zu oder weinerlich und ängstlich (nicht nur aus Furcht vor dem Tod, sondern auch aus Sorge, ob das Bildnis genau genug wird, damit man das Modell erkennt)? Meiner Hausärztin drängt sich jedoch eine parallele, moderne, medizinische Transaktion auf. »Ist es das«, so fragt sie, »was von dem Arzt und seinem [sterbenden] Patienten verlangt wird? Und wenn ja, wie findet man den rechten Moment, um damit zu beginnen?« Da wird mir klar, dass sie und ich – vielleicht zu unserem beiderseitigen Erstaunen – bereits begonnen haben. Sie, indem sie mir ihre Betrachtungen über den Tod schickt, auf die ich mit diesem Buch antworten werde. Sollte sie meine Todesärztin werden, dann hatten wir zumindest ein langes Vorgespräch und wissen, wo unsere Differenzen liegen.
Meine Ärztin ist wie ich nicht gläubig; wie Sherwin Nuland ist sie entsetzt von der übermäßigen Medizinisierung des Sterbens, von der Verdrängung weiser Besonnenheit durch die Technik, sodass der Tod dem Patienten wie dem Arzt als schändliches Versagen gilt. Sie tritt dafür ein, den Schmerz neu zu überdenken, der nicht unbedingt nur ein Feind ist, sondern etwas, was der Patient sich zunutze machen kann. Sie wünscht sich mehr Freiraum für eine »Säkularbeichte«, eine Gelegenheit zum Bilanzziehen, zu Vergebung und – ja, doch – Reue.
Ich bewundere ihre Ausführungen, doch in einem wesentlichen Punkt bin ich (nur um unsere Abschlussdiskussion rechtzeitig in Gang zu setzen) anderer Meinung als sie. Wie Sherwin Nuland sieht sie das Leben als eine Geschichte an. Das Sterben, das nicht zum Tod, sondern zum Leben gehört, ist das Ende dieser Geschichte, und die Zeit vor dem Tod ist die letzte Gelegenheit für uns, in der zu Ende gehenden Geschichte einen Sinn zu erkennen. Gegen diesen Gedankengang sträube ich mich, vielleicht weil ich in meinem Beruf ständig darüber nachdenke, was eine Geschichte ist und was nicht. Lessing bezeichnete die Geschichtsschreibung als das Ordnen von Zufällen, und für mich ist ein Menschenleben dasselbe im Kleinformat: eine Bewusstseinsspanne, in der sich gewisse Dinge ereignen, von denen manche vorhersehbar sind, andere nicht; in der sich gewisse Muster wiederholen, in der das Wirken des Zufalls und des – wie wir vorerst wohl noch sagen dürfen – freien Willens in eine Wechselbeziehung treten; in der Kinder im Allgemeinen heranwachsen, ihre Eltern begraben und selbst Eltern werden; in der wir mit ein bisschen Glück jemanden finden, den wir lieben können, und damit auch eine Lebensweise, und wenn nicht, dann eine andere Lebensweise; in der wir unsere Arbeit tun, unserem Vergnügen nachgehen, unseren Gott anbeten (oder auch nicht) und zusehen, wie die Weltgeschichte ein, zwei winzige Rädchen weiterspringt. In meinen Augen ist das aber noch keine Geschichte. Oder, Vorschlag zur Güte: Es mag eine Geschichte sein, aber für mich fühlt es sich nicht so an.
Wenn meine Mutter sich wieder einmal über das Nichterscheinen oder die Missetaten eines trotteligen Handwerkers oder ungeschickten Monteurs geärgert hatte, sagte sie oft, über ihre Erfahrungen mit solchen
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