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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Leuten könne sie »ein Buch schreiben«. Dieses Buch hätte sie gern schreiben können, und es wäre todlangweilig geworden. Wahrscheinlich hätten Anekdoten darin gestanden, kleine Episoden, Charakterstudien, Satiren, sogar Frivolitäten; aber das ergibt noch keine Geschichte. Genauso ist es mit unserem Leben: eine verfluchte Kleinigkeit nach der anderen – ein Abflussrohr ausgetauscht, eine Waschmaschine repariert –, aber keine Geschichte. Anders gesagt (da ich meine Hausärztin auch im Konzert treffe), es gibt keine ordentliche Einführung des Themas, auf die Durchführung, Variation, Reprise, Coda und knirschende Auflösung folgen. Es gibt die eine oder andere herzbewegende Arie, viele prosaische Rezitative, aber wenig Durchkomponiertes. »Das Leben ist weder lang noch kurz – es hat bloß Längen.«
    Das heißt, wenn wir dem Tod entgegengehen und beim Rückblick auf unser Leben »unsere Geschichte verstehen« und ihr einen endgültigen Sinn aufdrücken, dann tun wir, fürchte ich, nicht viel mehr als zu konfabulieren: Wir verwandeln seltsamen, unbegreiflichen, widersprüchlichen Input in eine Art – irgendeine Art – von glaubwürdiger Geschichte, aber glaubwürdig vor allem für uns selbst. Ich habe nichts gegen dieses atavistische Bedürfnis nach Geschichten – schon allein, weil ich damit mein Geld verdiene –, aber es ist mir suspekt. Ich gehe davon aus, dass ein Sterbender einen unzuverlässigen Erzähler abgibt, denn was uns nützlich ist, steht gewöhnlich im Widerspruch zu dem, was wahr ist, und nützlich ist in dem Moment das Gefühl, das eigene Leben habe ein Ziel und einen verständlichen Handlungsablauf gehabt.
    Ärzte, Priester und Romanschriftsteller haben sich verschworen, das menschliche Leben als eine Geschichte darzustellen, die sich auf einen sinnvollen Schluss hin entwickelt. Und so teilen wir unser Leben brav in Abschnitte ein, wie volkstümliche Historiker ein Jahrhundert gern in Jahrzehnte unterteilen und dann jedem irgendein Etikett aufkleben. Als kleiner Junge erschien mir das Erwachsenendasein wie ein unerreichbarer Zustand – eine Mischung von nie zu erlernenden Fähigkeiten und Ängsten, um die man niemanden beneidet (Rente, falsche Zähne, Fußpflege); und doch trat dieser Zustand irgendwann ein, auch wenn er sich innerlich nicht so anfühlte, wie er von außen aussah. Er schien auch keine Errungenschaft zu sein. Das Ganze wirkte eher wie eine Verschwörung: Ich tu so, als wärst du erwachsen, wenn du so tust, als wäre ich es. Als anerkannte (oder zumindest nicht als Hochstapler durchschaute) Erwachsene streben wir dann einen erfüllteren, reiferen Zustand an, in dem sich die Geschichte gerechtfertigt hat und wir ausrufen oder schüchtern zugeben können: »Reifsein ist alles!« Doch wie oft gilt diese fruchtige Metapher? Wir können genauso gut als saures Fallobst enden oder durch die Sonne vertrocknen und verschrumpeln wie stolz der Reife entgegenschwellen.

    Ein Mann schreibt ein Buch über den Tod. Zwischen dem Moment, wo er sich seinen ersten Satz ausdenkt – »Jetzt wollen wir mal die Sache mit dem Tod klären« – und dem Moment, wo er seinen tatsächlichen und anders lautenden ersten Satz tippt, sind weltweit etwa 750000000 Menschen gestorben. Während er sein Buch schreibt, sterben weitere circa 75000000 . Zwischen der Abgabe des Buchs beim Verlag und seinem Erscheinen sterben noch einmal 45000000 . Angesichts dieser Zahlen klingt Edmond de Goncourts Argument – dass ein göttlicher Buchhalter viel zu überlastet wäre, wenn er uns allen ein Weiterleben zugestehen wollte – beinahe einleuchtend.
    In einem meiner Romane ließ ich eine Figur darüber nachdenken, dass es noch andere Möglichkeiten geben müsste als das brutale Entweder/Oder, das ultimative Was-wäre-dir-lieber von 1 . Es gibt einen Gott oder 2 . Es gibt keinen Gott. Also ließ sie sich verschiedene reizvolle Ketzereien einfallen wie etwa: 3 . Früher hat es Gott gegeben, aber jetzt nicht mehr; 4 . Es gibt Gott, aber er hat uns verlassen; 8 . Es hat Gott gegeben und wird ihn in Zukunft wieder geben, zurzeit aber nicht – er hat bloß ein göttliches Sabbatjahr genommen (was manches erklären würde); und so weiter. Meine Figur kam bis Nummer 15 (Es gibt keinen Gott, aber ewiges Leben gibt es doch), dann waren wir beide am Ende unserer Vorstellungskraft angelangt.
    Eine Möglichkeit, die wir nicht in Betracht gezogen haben, ist die, dass Gott der letzte Ironiker ist. Wie

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