Nichts Weißes: Roman (German Edition)
gefahren – wie Petrus das nannte – zu seinen Eltern ins fachwerkgeschachtelte Bacharach, wo es selbst am Samstag sonntäglich zuging, und weiter nach Gruiten, wo man das Unkraut sprießen ließ, das Haus der Großeltern Fleck riesig, aber kein Fernseher, das fanden die Kinder sonderbar.
Marleen hatte es schon als Kleinkind entzückt, dass die Mutter in »Lolland« geboren worden war, und noch als Zweitklässlerin wollte das Gefühl sie nicht verlassen, dass Gruiten in Holland lag. Obwohl einiges dagegen sprach. Man musste den Rhein passieren, an Düsseldorf vorbei, und tauchte dann ab in ein Labyrinth von Senken und Engführungen, die einen vom Himmel entfernten, irdisch machten, man glaubte Eisenstaub im Haar zu haben, wenn man wieder zu Hause war. Später stellte sich heraus, dass der Neusser Sonnenuntergang in Holland stattfand. Gruiten aber – in der anderen Richtung – gehörte zu einer Landschaft, für die niemand so recht einen Namen fand, diese Mischung von plötzlichen Wäldern und schnaufenden Fabriken; klapprige viergeteilte Fenster entlangdunkel schimmernder Asphaltstraßen; die Störrigkeit von Dächern und Fassaden aus Schieferschindeln.
Petrus: »Das hat schon die Struktur des Ruhrgebiets.«
Lore: »Unsinn, es ist überhaupt nicht proletarisch, sondern rheinisch-mittelständisch.«
»Wir sitzen hier am nordwestlichen Ende des Bergischen Lands«, hatte Lores Vater bei jeder Gelegenheit wiederholt, bis er im Jahr zuvor gestorben war. Dennoch war es für die Pomos verwirrend, wie die Großmutter allein in der Einfahrt stand, um sie zu begrüßen. Wegen der Ente war jedem nur kleines Gepäck erlaubt. Das sah lustig aus, Lore und vier Kinder in dieser wackelnden Muschel, die Türen aufspringend wie bei einem Adventskalender.
Was Haus und Garten betrifft, ist die Anwesenheit eines Ehepaares günstig. Man nimmt Mann und Frau wie Statuen wahr, links und rechts, die einen Ausschnitt rahmen, der als Bild gelten darf. So hatten die Schullerkinder über Jahre in aller Ruhe das Gruitener Haus betrachtet. Es gab einen kleinen Speisesalon mit dunklem Parkett, die Fenster wie Eisblumen, teils mit farbigen Scheiben; eine Bibliothek hinter einer zweiflügeligen Schiebetür, leicht laufend wie ein Vorhang; eine mit Efeu bewachsene Kaminwand; einen Brunnen, den man sorgsam mit einem Eichenholzdeckel verschlossen hatte. All das war als unabänderlich betrachtet worden. Nun trat Klärchen Fleck selbst in dieses Bild, das prompt begann, sich zu bewegen. Sie hatte den schweren, schwarzen Kohleherd entfernen lassen und durch einen »modernen« Elektroherd ersetzt. Die Türen zur Bibliothek standen jetzt offen, durch Zierpflanzen in Porzellantöpfen blockiert. Im Garten waren zwei marode Kastanien gefällt worden. Nicht, dass es wirklich anders war. Es lagen auch in dem großen Bad mit dem hellen Steinboden Handtücher und Waschlappen bereit (zwei Waschlappen für jeden, einen für »oben« und einen für »unten«), rot für Johanna, grün für Marleen, blau für Cristina und weiß für Linus. Es schien, als wäre ein Licht auf Klärchen gerichtet worden, das sie näher rückte, größer erscheinen ließ. Sie war aus ihrer Geschichte gesprungen wie ein Küken aus dem Ei.
Marleen und Cristina waren unterwegs im Garten, jetzt hier und plötzlich dort, aber dann segelte Cristina weiter und Marleen blieb sitzen bei den Liegestühlen, auf denen Klärchen und Lore still miteinander sprachen.
»Das ist ja auch gar nicht unser Stil«, sagte Klärchen, der Plural Gewohnheit. Marleen wartete ab, was ihre Mutter sagen würde, die zu wissen schien, was gemeint war.
»Was ist nicht euer Stil?«, fragte Marleen.
»Dieses Haus«, antwortete Klärchen. Marleen sah zum Haus, dessen rückwärtige Fassade im Schatten lag, kleinteilig und verspielt, wohlmeinend und düster zugleich: ein perfektes Haus, das es in ihrer Erinnerung schon immer gegeben hatte.
»Aber das ist doch euer Haus«, sagte Marleen.
»Nein, ist es nicht«, sagte Klärchen.
Und während Cristina weiter durch den Garten der Kindheit taumelte und Johanna, unansprechbar, auf ihrem Bett lag und Krabat las, tauchte Marleen ein in die eigene Zukunft. Es dauerte einige Tage, bis sie das Gröbste geordnet hatte.
Am schwersten zu begreifen war, dass die Deutschen einst böse gewesen waren, die Holländer aber gut. Die Holländer wollten Häuser mit großen Fenstern, die Deutschen bauten Panzer. Die Holländer hatten nichts gegen die Deutschen, sie holten ja den
Weitere Kostenlose Bücher