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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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Petrus hört schon das Klötern der Goldmedaille vom Art Directors Club. Auch wenn ihn das alles jetzt schon nicht mehr interessiert.
    Ein fünftes Heft hat Johanna auf dem Bett begraben. Petrus entdeckt es, als er sich zu ihr setzt. Aufgeschlagen ist die Krönung der Kampagne, die Werbung für das »Erste-Regel-Set«. Das Foto zeigt ein nacktes zwölfjähriges Mädchen, das in einem altertümlichen Spiegel seine knospenden Brüste betrachtet. Petrus legt das Heft auf den Boden zu den anderen und streichelt Johanna, oder eigentlich das Kissen, was ungehaltenes Schluchzen zur Folge hat. Petrus wechselt zum Schreibtisch und liest im Katholischen Katechismus der Bistümer Deutschlands. »Für mein Leben: Ich will meinen Schutzengel lieben, ihn alle Tage andächtig anrufen, seinen Ermahnungen treu folgen und daran denken, dass er mich überall sieht.« Sehr trickreich, denkt Petrus, dieses »Für mein Leben«. Die haben schon auch sehr gute Texter. Er liest laut:
    »Ich will meinen Schutzengel lieben, ihn alle Tage andächtig anrufen … und daran denken, dass er mich überall sieht.«
    »Sei.. ahnung.. eufolgen«, kommt von unter dem Kissen zurück.
    Johannas Gesicht ist aufgequollen, die Augen sind rot unterlaufen, die Haare offen. Die Kindernarbe auf der Stirn tritt hervor. Sie schmollt, sie heult, sie tobt. Sie hat ihre Sprache verloren. Es reicht nur noch bis zum Fragezeichen. Sie will alles wissen über das Foto, über dieses Mädchen aus Kalifornien, umso lauter schluchzend, als Petrus es ihr erzählt. Er träufelt ihr die Geschichte ein wie bittre Tropfen, die einzigen, die helfen. Falls sie helfen. Kampagnenklatsch, letztendlich, mehr nicht. Da ist sie wieder schniefend unter dem Kissen, dann trommelt sie gegen das Kopfstück ihres Bettes, und später reißt sie sich das T-Shirt vom Leib, Beweinung Christi, Tränen wie gemalt. Sie ist wirklich noch ein Kind, sagt sich Petrus, aber sie fühlt wie eine Frau. Er nimmt es, lallend und halbnackt, in die Arme und streichelt das Mädchen, bis es wieder sprechen kann. Den Rest des Abends weicht Johanna nicht mehr von Papas Seite, empfänglich für jede Sorte von Schmeichelei.
    Nachts, Petrus und Lore gemeinsam in einem Bett, das ist lange nicht mehr vorgekommen. Es ist Lores Mädchenzimmer von einst. Er flüstert:
    »Als Nächstes hätte ich den Exorzisten rufen müssen.«
    »Was war denn eigentlich los?«
    »Da haben die Mauern gewackelt. Alles.«
    »Wegen einer nackten Laura aus Beverly Hills?«
    »Das war der Auslöser, glaub’ schon.«
    »Eifersucht.«
    »Mmh. Die Kampagne macht sie eifersüchtig. Als hätte sie ›o.b.‹ erfunden.«
    »Eifersüchtig auf die Kampagne!«
    »Auf das ganze Ding eben.«
    »Das ganze Ding.«
    Sie kichern.
    Lore: »Auf den Papa.«
    Petrus: »Den Papa oder den Papst. Keine Ahnung.«
    Sie dreht sich zu ihm und lässt ihre Hand in seine seidene Pyjamahose gleiten. Die lockere Hand der Hannelore Fleck. Im nächtlichen Garten hört man die Gräser lispeln.
    »Ihr werdet ein Fleisch sein«, flüstert Lore, und Petrus raunt:
    »Aber subito.«

Wandlung
    An einem Donnerstag im September nahm Marleen ihr Fahrrad, verließ die Pomona über das Nadelöhr und strampelte entlang der großen Straße in Richtung Pius. Alles war zum Stillstand gekommen. Die Buchen und Birken waren noch grün, aber nicht mehr frisch. Die Vögel hatten längst ihre Nester aufgegeben. Ruhig und stolz stand die Spätnachmittagssonne über Holland. Was geschehen sollte, war geschehen, und was geschehen würde, gehörte in eine andere Zeit, eine andere Saison. Marleen war spät dran, aber sie beeilte sich nicht, wofür es Gründe gab. Die Kette hätte abspringen können. Sie mochte nicht verschwitzt im kirchlichen Unterricht sitzen. Vielleicht hatte sie einfach keine Lust.
    Als sie in den Hof einbog, standen Fahrräder da, zwanzig oder mehr, die besten mit den Vorderrädern an die Stahlträger angeschlossen, manche frei herumstehend, eines – dem der Ständer abhandengekommen war – einfach auf die Kieselsteinplatten gelegt. Sie erkannte auch Ingolfs blauen »Schlitten« mit dem umgedrehten Rennlenker. Der Gemeindesaal grenzte an den Fahrradhof, aber ohne Fenster. Marleen war abgestiegen. Sie sah sich um. Sie fragte sich, ob der Hof sie traurig machte. Obwohl die Katechesezeit vor mehr als einem Monat begonnen hatte, war es überhaupt das erste Mal, dass sie ihn sah, mit den Betonschränken für die Mülltonnen gegenüber, ein wenig gepflegtes Beet dahinter. Oder ob sie so

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