Nick Stone - 01 - Ferngesteuert
entschlüsseln sollte, Simmonds zufriedenstellen würde, wollte ich mit Kelly aus den Staaten verschwinden. Ich wußte, daß Big Al die nötigen Verbindungen besaß, um uns Reisepässe beschaffen zu können, und uns
wahrscheinlich auch mit Geld aushelfen würde.
Nach einem späten Lunch und anschließendem Mittagsschlaf folgten achtzehn Löcher bei den Piraten, wo ich Kelly wieder gewinnen ließ. Dann wurde es auch schon Zeit, mich auf den Treff vorzubereiten.
Gegen 19 Uhr 30 begann die Sonne unterzugehen, und an den Straßen flammten die Leuchtreklamen auf.
Plötzlich bot sich ein ganz anderes Bild: Aus den Geschäften drang laute Musik, und die Kids fuhren die Atlantic Avenue jetzt mit wesentlich mehr als den
zulässigen zehn Meilen in der Stunde hinauf und
hinunter.
Aus irgendwelchen Gründen, vielleicht war das Wetter daran schuld, hatte ich Mühe, mir unserer schwierigen Lage bewußt zu bleiben. Kelly und ich schlenderten auf einem ausgedehnten Schaufensterbummel Eis essend durch die Straßen. Sie verhielt sich wie jede andere Siebenjährige und blieb manchmal vor einer Auslage stehen, um irgend etwas so nachdrücklich zu bewundern, daß ich wie ein Erziehungsberechtigter antwortete: »Nein, für heute ist’s genug, glaube ich.«
Kelly machte mir allerdings Sorgen. Ich hatte das Gefühl, es sei falsch, daß sie alles so klaglos wegsteckte. Vielleicht hatte sie nicht verstanden, was ich ihr über ihre Familie erzählt hatte; vielleicht verhinderte ihr Unterbewußtsein, daß sie die Tatsachen wirklich an sich heranließ. Im Augenblick war sie jedoch genau das, was ich zur Tarnung brauchte: ein Kind, das normal aussah und sich normal benahm.
Wir standen vor einem Spielwarengeschäft. Sie wollte einen im Schaufenster liegenden Ring, der nachts leuchtete. Ich behauptete, kein Geld bei mir zu haben, was gelogen war.
»Kannst du ihn nicht für mich klauen?« fragte sie.
Daraufhin führten wir ein ernsthaftes Gespräch über Recht und Unrecht. Kelly hatte sich allzu rasch an unser Leben auf der Flucht gewöhnt.
Inzwischen war es 20 Uhr 30. Wir hatten eine Pizza gegessen, und im Urlaub ist um diese Zeit nach dem Abendessen immer ein Häagen Dazs fällig. Nach dem Eiskauf machten wir uns auf den Weg zu unserem Treff mit Big Al. Unterwegs mußten wir uns an rudelweise geparkten Motorrädern vorbei durch eine die Gehsteige füllende Menge aus jungen Leuten mit Biker-Slogans auf den T-Shirts drängen.
Ich fand einen Standort, von dem aus ich den einzigen Eingang des Boot Hill Saloon beobachten konnte: auf dem alten Friedhof gegenüber. Er war alles, was von der ursprünglichen Stadt aus den zwanziger Jahren übriggeblieben war - die einzige Fläche, die nicht planiert und mit Hotels bebaut werden konnte. Stellten
Biker ihre Maschinen ab und verschwanden im Saloon, dröhnte jedesmal lauter Rock ’n’ Roll auf die Straße. Dort kollidierte er mit Salsa- und Rapmusik aus den mit zahlreichen Lautsprechern bestückten Geländewagen und Pickups, mit denen Studentengruppen die Straße hinauf- und hinunterfuhren. Manche hatten sogar blaue Neonröhren unter ihrem Wagen montiert, so daß sie im Vorbeifahren wie schwebende Raumschiffe aussahen, die Musik vom Mars spielten.
Kelly und ich warteten, schleckten unser Eis und saßen dabei auf einer Bank neben Mrs. J. Mostyn, Gott hab’ sie selig, die am 16. Juli 1924 in den Frieden des Herrn eingegangen war.
32
Die Main Street ist nicht wirklich die hiesige Hauptstraße, sondern eine Straße, die vom Meer zu einer Kanalbrücke führt. Daytona veranstaltet jedes Jahr eine Bike-Woche, und dies war die Straße, in die Tausende von Bikern einfielen. Hier gab es nur ein Thema: Harleys. Überall zwischen den Bike-Bars gab es Geschäfte, die Ersatzteile, Sturzhelme und Lederkleidung verkauften. Und selbst außerhalb dieser Woche standen immer Dutzende von Bikes mit Helmen auf den Sitzen vor Bars mit Namen wie Boot Hill Saloon, Dirty Harry’s oder Froggie’s, wo sogar ein Motorrad aus staubigen Knochen im Fenster stand.
Ich sah Big Al schon aus großer Entfernung, als er von
der Brücke her auf uns zuwatschelte. Zu einer blaßrosa Hose trug er ein blau-rot-grün-gelbes Hawaiihemd und war noch fetter, als ich ihn in Erinnerung hatte; weiße Schuhe und seine zottige Mähne vervollständigten eine Aufmachung, in der er wie ein arbeitsloser Komparse aus Miami Vice aussah. In seiner linken Hand trug er einen Aktenkoffer, was ein gutes Zeichen war; er hatte sein Handwerkszeug
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