Nick Stone - 03 - Verbrannte Spuren
hindurchsehen.
Ich sah hindurch - und wünschte mir, ich hätte es nicht getan. Meine Erinnerungen an Kelly waren sorgfältig ausgewählte Momentaufnahmen aus der Zeit vor ihrer Erkrankung: ein kleines Mädchen, das bei seiner Geburtstagsparty auf Sir Francis Drakes Golden Hind vor Aufregung zitterte, das vor Entzücken kreischte, als ich endlich mein Versprechen hielt und ihm den Tower of London mit den Kronjuwelen zeigte. Die wahre Kelly von heute saß jedoch auf einem Stuhl neben einer Krankenschwester. Die Schwester schien mit ihr zu plaudern und lächelte dabei ständig. Kelly reagierte jedoch nicht darauf; sie bewegte sich nicht einmal. Sie hielt ihre Hände sittsam auf dem Schoß gefaltet und starrte mit leicht zur Seite gelegtem Kopf aus dem Fenster gegenüber, als grüble sie über irgendetwas nach. Diese unnatürlich stille Haltung war zutiefst erschreckend.
Dr. Hughes sprach dicht neben meinem rechten Ohr. »Kelly hat frühzeitig Lektionen über Verlust und Tod lernen müssen, Mr. Stone. Wie soll eine Siebenjährige, die sie damals war, Morde verstehen? Ein Kind, das
Augenzeuge von Gewalt wird, erkennt schlagartig, dass die Welt ein gefährlicher, unberechenbarer Ort ist. Sie hat mir erzählt, dass sie nicht glaubt, dass sie sich jemals wieder im Freien sicher fühlen wird. Dafür kann niemand etwas, aber sie glaubt aus Erfahrung, die Erwachsenen in ihrem Leben seien außer Stande, sie zu beschützen. Sie glaubt, die Verantwortung für sich selbst übernehmen zu müssen - eine Vorstellung, die ihr große Angst macht.«
Ich sah das erstarrte kleine Mädchen erneut an. »Kann ich ihr irgendwie helfen?«
Dr. Hughes nickte langsam, als sie den Vorhang zurückfallen ließ und sich abwandte, um wieder ins Sprechzimmer zu gehen. »Im Lauf der Zeit müssen wir ihr helfen, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten und zu lernen, ihre Angstgefühle zu besiegen. Ihre Behandlung wird in Form einer >Gesprächstherapie< mit Einzel- oder Gruppengesprächen stattfinden, aber dafür ist es noch zu früh. Um die schlimmsten Symptome zu mildern, muss sie zunächst weiterhin Antidepressiva und einen leichten Tranquilizer bekommen.
Unsere Therapie bezweckt, Kelly zu helfen, sich gefahrlos an ihre traumatischen Erlebnisse zu erinnern, damit Familienleben, Freundschaften und Schulleistungen wieder ihren gebührenden Platz einnehmen können. Ganz allgemein müssen wir ihr helfen, die Empfindungen zu verarbeiten, mit denen sie im Augenblick kämpft: Trauer, Schuldbewusstsein, Zorn, Depression, Angst. Ihnen wird aufgefallen sein, Mr. Stone, dass ich >wir< sage.«
Wir erreichten ihr Sprechzimmer. Ich nahm wieder
Platz, und sie setzte sich an ihren Schreibtisch.
»Für Kinder sind üblicherweise die Eltern die wichtigsten emotionalen Beschützer, Mr. Stone. Sie können ihre Kinder psychologisch weit besser trösten und beruhigen als jeder Außenstehende. Sie können mit ihnen über ihre Ängste reden, ihnen versichern, dass Mammi und Daddy alles in ihrer Macht Stehende tun werden, um sie zu beschützen, und in ihrer Nähe bleiben. Auch wenn das bei Kelly leider nicht möglich ist, braucht sie einen verantwortungsbewussten Erwachsenen, auf den sie sich verlassen kann.«
Ich begann zu verstehen. »Sie meinen ihre Großmutter?«
Ich hätte schwören können, sie sei erschaudert.
»An die habe ich weniger gedacht. Sehen Sie, ein wichtiger Faktor bei der Heilung eines Kindes von diesem Syndrom ist die Bereitschaft seiner Bezugsperson, über die Gewalttat zu sprechen und ein unparteiischer Zuhörer zu sein. Kinder müssen erfahren, dass es zulässig ist, über Gewalt zu reden. Kelly braucht gewissermaßen die Erlaubnis, über alles zu reden, was ihr zugestoßen ist. Manche Bezugspersonen halten Kinder mit subtilen Methoden davon ab, über Gewalt in ihrem Leben zu reden, und genau das ist meinem Empfinden nach bei Kellys Großeltern der Fall.
Ich glaube, dass ihre Großmutter gekränkt und entmutigt ist, weil Kelly alles Interesse an Familienaktivitäten verloren hat und so distanziert und leicht reizbar ist. Sie findet es sehr belastend, die Einzelheiten zu hören - vielleicht weil sie glaubt, für
Kelly sei es weniger belastend, nicht darüber zu sprechen. Dabei ist es für Kinder oft beruhigend und erleichternd, sich bei vertrauenswürdigen Erwachsenen aussprechen zu können. Es kann auch therapeutisch nützlich sein, wenn Kinder ihre Erlebnisse und Ängste verarbeiten, indem sie die Geschichte nochmals erzählen. Damit
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