Nick Stone - 03 - Verbrannte Spuren
unterscheidet, dass der Weg zur Genesung länger sein dürfte, als ich ursprünglich dachte.«
Länger und teurer. Ich schämte mich für diesen Gedanken, aber er drängte sich mir einfach auf.
»Von welchem Zeitraum sprechen wir ungefähr?«
Sie schob ihre Unterlippe vor und schüttelte langsam den Kopf. »Das lässt sich noch immer nicht sagen, Mr. Stone. Was wir hier zu heilen versuchen, ist weit komplizierter als ein einfacher Knochenbruch. Ich verstehe, dass Sie gern einen Zeitplan hätten, aber ich kann Ihnen keinen Termin nennen. Der Verlauf dieser Störung ist ganz unterschiedlich. Bei zweckmäßiger Behandlung erholen sich die meisten Patienten innerhalb eines Vierteljahrs von diesem Syndrom. Manche haben nie wieder Schwierigkeiten damit. Viele brauchen länger, manchmal ein Jahr oder noch länger. Andere leiden trotz aller Behandlung noch längere Zeit unter leichten bis mittleren Beschwerden. Ich fürchte, Sie werden sich wirklich auf einen langwierigen Heilprozess einstellen müssen.«
»Kann ich Kelly irgendwie helfen?«
Dr. Hughes lächelte zum zweiten Mal. Ihr Lächeln wirkte nicht herzlich, sondern leicht triumphierend, so dass ich den Verdacht hatte, in irgendeine Fall getappt zu
sein.
»Nun«, sagte sie, »ich habe Sie heute aus einem bestimmten Grund hergebeten. Kelly ist hier - in einem der Zimmer.« Ich begann aufzustehen. »Kann ich sie sehen?«
Sie stand ebenfalls auf. »Gewiss. Das ist der Zweck der Übung. Aber ich muss Ihnen sagen, Mr. Stone, dass ich nicht möchte, dass sie Sie sieht.«
»Wie bitte? Ich .«
Die Ärztin schnitt mir das Wort ab. »Ich will Ihnen vorher noch etwas zeigen.« Sie zog eine Schreibtischschublade auf, nahm mehrere Blatt Papier heraus und schob sie über den Schreibtisch. Ich war nicht auf den Schock vorbereitet, den sie mir versetzten. Die Bilder, die Kelly von ihren ermordeten Angehörigen gezeichnet hatte, unterschieden sich gewaltig von dem Foto einer glücklichen Familie in meinem Rucksack.
Auf der ersten Zeichnung kniete Kellys Mutter vor einem Bett mit blutrot verfärbter Decke, auf der ihr Oberkörper mit ausgebreiteten Armen lag.
Auf der nächsten lag ihre fünfjährige Schwester Aida mit fast vom Hals abgetrennten Kopf im Bad zwischen Wanne und WC auf dem Boden. Das hübsche blaue Kleid, das sie an jenem Tag getragen hatte, war chaotisch mit rotem Filzstift bemalt.
Kevin, ihr Vater und mein bester Freund, lag im Wohnzimmer auf dem Teppich neben dem Baseballschläger, mit dem jemand ihm den Schädel eingeschlagen hatte.
Ich sah zu der Ärztin auf. »So habe ich sie damals vorgefunden - in genau diesen Stellungen. Ich habe nie geahnt, dass sie ...«
Ich hatte sie in ihrem Versteck gefunden, das Kevin für die Kinder für den Fall, dass es ein Drama gab, eingerichtet hatte. Kelly hatte mir nie ein Wort davon erzählt, und ich hätte nie gedacht, sie könnte Augenzeugin der drei Morde gewesen sein. Aber die damaligen Ereignisse schienen sich ihr unauslöschlich eingeprägt zu haben.
Dr. Hughes sah mich über ihre Brille hinweg an. »Kelly erinnert sich sogar daran, welche Schlager sie im Radio gehört hat, während sie geholfen hat, den Tisch in der Küche zu decken. Sie hat mir erzählt, wie die Sonne durchs Küchenfenster geschienen und auf dem Besteck geglitzert hat. Sie erinnert sich, dass Aida ihr Haarband verloren hat, kurz bevor die Männer hereingekommen sind. Dass sie sich in Gedanken auf die Ereignisse unmittelbar vor den Morden konzentriert, erscheint mir als Versuch, ihnen eine andere Wendung zu geben.«
Ich war erleichtert, dass ihre Rückblenden sich auf diese Zeit beschränkten, aber wenn die Behandlung Erfolg hatte, würde sie sich bestimmt auch an die Zeit nach den Morden erinnern. Dann würde ich die Firma konsultieren müssen, weil dabei »sicherheitsrelevante« Tatsachen ans Tageslicht kommen konnten. Aber vorläufig brauchte sie nicht zu wissen, dass Kelly krank war.
Die Psychiaterin unterbrach meine Gedankengänge. »Kommen Sie bitte mit, Mr. Stone. Ich möchte sie Ihnen zeigen und danach mit Ihnen besprechen, was wir zu
erreichen hoffen.«
Sie führte mich einen kurzen Flur entlang. Ich verstand nicht, was das alles sollte. Warum durfte Kelly mich nicht sehen? Wir bogen links ab und blieben vor einer Tür mit einem kleinen Fenster stehen, das mit einem Vorhang verschlossen war. Dr. Hughes schob ihn behutsam mit einem Finger beiseite, sah hindurch, trat dann zurück und bedeutete mir, ich solle ebenfalls
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