Nick Stone - 03 - Verbrannte Spuren
meine ich nicht, dass wir Kelly dazu zwingen sollten, ihre Erlebnisse zu schildern, aber sobald sie freiwillig darüber spricht, könnten Beruhigung und Bestätigung ungeheuer viel zu ihrer Genesung beitragen.«
Dieser ganze Psychomüll wurde mir allmählich zu viel. Ich begriff nicht, was ich damit zu tun haben sollte.
Als habe die Ärztin meine Gedanken gelesen, schob sie erneut die Unterlippe vor und sah mich über ihre Halbbrille hinweg an. »Das Ganze läuft darauf hinaus, Mr. Stone, dass Kelly bei ihrem Heilungsprozess einen vertrauenswürdigen Erwachsenen an ihrer Seite brauchen wird - und meiner Ansicht nach sind Sie dafür ideal geeignet.«
Sie machte eine Pause, um mir Zeit zu geben, die Konsequenzen ihrer Ausführungen zu begreifen.
»Sehen Sie, Kelly vertraut Ihnen; sie spricht voller Zuneigung von Ihnen und betrachtet sie als eine Art Ersatzvater. Was sie weit mehr als die Aufmerksamkeit und Therapie braucht, die wir Ärzte ihr geben können, ist das Bewusstsein, dass Sie diese Rolle akzeptieren und sie auch ausfüllen werden.« Sie fragte mit besonderem Nachdruck: »Hätten Sie damit irgendwelche
Schwierigkeiten, Mr. Stone?«
»Ich nicht, aber vielleicht mein Arbeitgeber. Ich müsste erst ...«
Dr. Hughes hob eine Hand. »Sie haben den Kokon gesehen, mit dem Kelly sich umgeben hat. Es gibt keine unfehlbare Methode, ihn zu durchbrechen, wenn jemand außer Reichweite ist. Aber unabhängig von der Ursache muss eine Form der Liebe Bestandteil der Lösung sein. Was Kelly braucht, ist ein Prinz auf einem feurigen Rappen, der sie aus der Gewalt des Drachens befreit. Meiner Überzeugung nach hat sie beschlossen, ihren Kokon nicht zu verlassen, bevor Sie wieder ein integraler Bestandteil ihres Lebens sind. Ich bedaure, Ihnen diese Verantwortung aufbürden zu müssen, Mr. Stone, aber Kelly ist meine Patientin, deren Interessen ich wahren muss. Deshalb wollte ich nicht, dass sie Sie heute sieht; ich will nicht, dass sie anfängt, Hoffnungen zu hegen, die dann wieder enttäuscht werden. Bitte gehen Sie und denken Sie darüber nach, aber glauben Sie mir, je eher Sie sich dazu verpflichten können, desto eher wird Kellys Zustand sich bessern. Bis dahin ist jede Art Therapie auf Eis gelegt.«
Ich griff in meinen Rucksack und holte die gerahmten Fotos heraus. Mehr fiel mir in diesem Augenblick nicht ein. »Die habe ich ihr mitgebracht. Es sind Fotos von ihrer Familie und von Freunden. Vielleicht helfen sie ein bisschen.«
Dr. Hughes nahm sie entgegen, während sie weiter auf meine Antwort wartete. Als sie merkte, dass sie keine bekommen würde - zumindest nicht heute -, nickte sie schweigend und bugsierte mich freundlich, aber bestimmt in Richtung Tür. »Ich spreche heute Nachmittag mit ihr. Ich rufe Sie später an; ich habe Ihre Nummer. Und jetzt haben Sie einen Termin bei den Leuten im Erdgeschoss, nicht wahr?«
Ich fühlte mich ziemlich deprimiert, als ich auf dem Nordufer der Themse nach Osten fuhr. Nicht nur wegen Kelly, sondern auch meinetwegen. Ich zwang mich dazu, mir den wahren Grund dafür einzugestehen: Mir graute davor, die Verantwortung für sie übernehmen zu müssen. Und trotzdem musste ich halten, was ich meinem Freund Kevin versprochen hatte.
Ich hatte schon genügend Probleme mit mir selbst, ohne dass Ärzte mir sagten, was ich für andere Leute tun sollte. Im Einsatz für andere Männer verantwortlich zu sein, war in Ordnung. Wurde dabei jemand angeschossen, war das im Vergleich zu dieser Sache eine einfache Geschichte. Man ließ ihn nicht im Stich, sondern holte ihn aus der Scheiße und verarztete ihn. Manchmal kam er durch, manchmal nicht. Das war etwas, worüber ich nicht nachzudenken brauchte. Der Verwundete wusste immer, dass jemand kommen würde, um ihn rauszuholen; das half ihm, am Leben zu bleiben. Aber dieser Fall lag anders. Kelly war meine Verwundete, um die ich mich kümmern musste, aber hier ging es nicht nur darum, sie zu verarzten; sie wusste nicht, ob Hilfe kommen würde. Ich wusste es auch nicht.
Aber ich wusste, was ich für sie tun konnte: Ich konnte Geld für ihre Behandlung verdienen. Ich würde auch für sie da sein, aber erst später. Im Augenblick musste ich fleißig sein und Geld verdienen. Für Kelly hatte es viel zu häufig »später« geheißen, wenn es um versprochene
Anrufe oder Geburtstagsgeschenke ging, aber das würde sich ändern. Es würde sich ändern müssen.
Ich schlängelte mich durch den stockenden Verkehr und erreichte endlich die Auffahrt zur
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