Nick Stone - 03 - Verbrannte Spuren
Tatsächlich waren nicht wenige von ihnen blasser als die Fritten, die ich auf meinem Teller zurückgelassen hatte.
Ich kam am Zeitungskiosk vorbei. In englischer
426
Sprache gab es dort nur einen weiteren Reiseführer über Estland. Ich beschloss, in die Bar zurückzugehen und meinen eigenen zu lesen.
Die Finnen, denen schwere See nichts auszumachen
schien, schütteten weiter Koff-Bier in sich hinein – oder versuchten es zumindest. Der hohe Seegang bewirkte, dass die Hälfte des Inhalts ihrer Biergläser auf dem Deck landete.
Der einzig freie Platz befand sich am Ende einer
halbrunden Sitzbank, auf der sechs Finnen – drei Männer und drei Frauen – Ende dreißig saßen. Alle sechs waren teuer gekleidet, rauchten Camels und tranken dazu Unmengen Wodka. Ich bedachte sie mit einem
abweisenden Lächeln, als ich mich auf die mit rotem Kunstleder gepolsterte Bank setzte und meinen
Reiseführer aufschlug.
Estland, erfuhr ich, ein zwischen Litauen und Russland eingeklemmter Staat, war etwa so groß wie die Schweiz und nur zwei bis drei Autostunden von St. Petersburg entfernt. Seine Bevölkerung von 1,5 Millionen Menschen entsprach ungefähr der Einwohnerzahl von Genf, und wenn es über dieses Land nichts Vorteilhafteres zu sagen gab, musste es ziemlich geisttötend sein.
Als Bürger einer Sowjetrepublik schienen die Esten ein verdammt hartes Leben geführt zu haben. Sie hatten Lebensmittelkarten, Brotschlangen, Benzinknappheit und eine Inflationsrate erlebt, die höher war als das Empire State Building. Insgesamt waren das ziemlich
deprimierende Bedingungen – wie in einer gigantischen slawischen Version einer Mietskaserne in South London.
427
Auf den Fotos der Altstadt von Tallinn waren
mittelalterliche Wälle, Zinnen, Türmchen und nadelspitze Türme zu sehen. Ich konnte es kaum erwarten, die
»giebelige Dächer« zu sehen, die der Reiseführer anpries.
Als ich weiterlas, entdeckte ich, dass die weitaus meisten Investitionen des Landes in dieses winzige Gebiet gegangen waren und die Mehrheit der Bevölkerung seit dem Abzug der Russen Anfang der neunziger Jahre kein Gas und Wasser mehr hatte. Aber andererseits würden Touristen sich nicht so weit aufs Land hinauswagen, nicht wahr?
Ich hockte da, hielt die Augen geschlossen und
langweilte mich schrecklich. Mit den Finnen konnte ich mich unmöglich unterhalten. Drüben in Estland wartete Arbeit auf mich, und nach allem, was ich sah, traute ich mir nicht zu, mit ihrer Trinkerei Schritt zu halten – vor allem nicht mit den drei Frauen.
Ich sank so tief zusammen wie nur möglich, um dem Zigarettenqualm zu entgehen, der jetzt als geschlossene Nebeldecke über mir hing. Die Fähre schlingerte heftiger als zuvor, und ihre Schrauben röhrten gelegentlich auf, als seien sie aus dem Wasser herausgekommen, was die Säufer an der Bar mit dem kollektiven Aufschrei
»Woaaah!« wie in der Geisterbahn quittierten. Vor den Fenstern war es finster, aber ich wusste, dass es dort draußen reichlich Treibeis gab.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust, ließ mein Kinn herabsinken und versuchte zu schlafen. Das würde natürlich nicht klappen, aber es war immer ratsam, eine Flaute dazu zu nutzen, die Akkus aufzuladen.
428
Eine Durchsage aus den Deckenlautsprechern weckte mich sozusagen auf, obwohl ich nicht wusste, ob ich wirklich geschlafen hatte. Ich vermutete, die
Lautsprecherstimme preise die fantastischen
Sonderangebote der Duty-free-Shops an Bord an, als ich das Wort Tallinn hörte. Die Durchsage wurde in
mehreren Sprachen wiederholt, und als Englisch an der Reihe war, hörte ich, dass wir in etwa einer halben Stunde Tallinn erreichen würden.
Ich steckte den Reiseführer und meine neue
Wollmütze in den Rucksack, der meinen Waschbeutel enthielt, und schlenderte den Korridor entlang nach achtern. Wegen des Seegangs schwankten alle
Entgegenkommenden wie betrunken, und auch ich
musste mich mehrmals mit einer Hand von der
Korridorwand abstützen, um nicht zu fallen. Ich folgte den Hinweisschildern zu den Toiletten, öffnete eine dunkel furnierte Schiebetür und stieg einen Niedergang hinunter.
Auf der Herrentoilette schwatzten ein paar Kerle
miteinander, zogen ihre Reißverschlüsse hoch und
zündeten sich Zigaretten an, bevor sie hinausgingen. Auf dem Boden schwamm fast so viel Alkohol wie auf dem Fußboden der Bar; der einzige Unterschied war, dass er zuvor durch menschliche Nieren gegangen war. Der
Raum war völlig überheizt, was den Gestank
Weitere Kostenlose Bücher