Nick Stone - 04 - Eingekreist
verschafft hatte.
Ein Blick durch die Fensterscheibe und das
Fliegengitter genügte, um mir unsere Fluchtroute zu zeigen: halb rechts zur Senke und von dort aus weiter zum Waldrand. Wir würden uns schräg von der
Vorderseite des Hauses und der Veranda wegbewegen,
aber irgendwann einen Punkt erreichen, an dem wir von der Huey aus zu sehen waren. Würden noch Leute an
Bord des Hubschraubers sein? Vielleicht der Pilot, der seine Kontrollen vornahm? Mein Entschluss, gleich jetzt zu flüchten, ließ sich nicht als objektiv falsch oder richtig einstufen. Für solche Dinge gab es keine festen Regeln; starben wir, hatte ich Unrecht, überlebten wir, hatte ich Recht gehabt.
Sobald wir hinter dem Wall aus Grün untergetaucht
waren, würden wir verhältnismäßig sicher sein; wir
würden uns nur mit einer Nacht auf dem
Dschungelboden abfinden müssen und den morgigen
Tag damit verbringen, parallel zu der Fahrspur zum
Haus durch den Dschungel zu dem abgeholzten Tal zu
marschieren. Wir würden den Baumfriedhof nachts
durchqueren, uns tagsüber versteckt halten und dann nach Chepo weitermarschieren. Wie sollte es von dort aus weitergehen? Darüber würde ich mir Sorgen
machen, wenn wir Chepo erreichten. Was Aaron betraf, bezweifelte ich, dass er nach 20.30 Uhr noch sehr lange leben würde.
Carrie und Luz hielten sich weiter auf dem Bett
umarmt. Ich ging zu ihnen hinüber, wo sie unter dem 476
Britney-Poster lagen, und flüsterte: »Wir werden
versuchen, den Waldrand zu erreichen.«
Luz sah ihre Mutter an, die ihr beruhigend zunickte.
»Wichtig ist, dass wir reichlich Abstand halten,
während wir rennen, okay? Dann sind wir schlechter zu sehen.«
Carrie sah von ihrem Kind auf und runzelte die Stirn.
Sie wusste, dass das nicht der wahre Grund war. Sie wusste, dass ein einziger Feuerstoß aus einem M-16 uns alle drei erledigen konnte – und dass wir schwerer zu treffen sein würden, wenn wir auf Abstand achteten.
Luz zupfte ihre Mutter am Arm. »Was ist mit
Daddy?«
Ich sah, dass Carrie gegen Tränen ankämpfte, und
legte der Kleinen eine Hand auf die Schulter. »Keine Sorge, Luz, ich hole ihn später. Er wollte, dass ich zuerst euch in den Dschungel bringe. Er will die Gewissheit haben, dass ihr in Sicherheit seid.«
Sie nickte zögernd, und wir hörten weiteres
Gemurmel von der Veranda und schwere Schritte vor
unserer Tür. Sofort abzuhauen, war das einzig Richtige.
»Sollten wir getrennt werden«, sagte ich halblaut,
»möchte ich, dass ihr beiden allein bis zum Waldrand weiterlauft, euch unter den Bäumen nach rechts
vorarbeitet, bis ihr die Rückseite des Hauses seht, und dort auf mich wartet.« An Luz gewandt fügte ich hinzu:
»Du darfst auf keinen Fall rauskommen, wenn dich
jemand ruft, selbst wenn es dein Vater ist – das wäre nur ein Trick. Du reagierst nur auf meine Stimme, okay?
Sobald ihr in Sicherheit seid, gehe ich zurück und hole 477
ihn.«
Darüber würde ich mir Gedanken machen, wenn es so
weit war, aber im Augenblick musste ich lügen, um die beiden ruhig zu stellen, damit ich mit dem weitermachen konnte, wofür er sich opferte.
»Fertig?«
Beide Köpfe nickten. Ich sah Luz an. »Ich zuerst, dann du, okay?«
Ich trat wieder ans Fenster. Carrie folgte mir, sah zum Waldrand hinüber und horchte auf die Stimmen
und das Gelächter vor dem Haus.
»Sie sind auf der Veranda, Nick, ist das nicht …«,
begann sie flüsternd.
»Wir haben keine Zeit.«
»Aber wie sollten wir die Bäume erreichen, ohne …«
»Seht zu, dass ihr bereit seid.«
Sie hatte Recht. Wie sollten wir es schaffen? Ich
wusste es nicht. Ich wusste nur, dass uns keine Zeit für irgendwelche komplizierten Pläne blieb, selbst wenn mir einer eingefallen wäre. Wir mussten es einfach
versuchen. Da wir ohnehin so gut wie tot waren, war alles andere ein Bonus.
Als ich das Fenster öffnete, wurden das Zirpen der
Grillen und die Stimmen der Jungs auf der Veranda
lauter. Ich dachte an eine in Beirut genommene Geisel, die nach ein paar Tagen durch ein offenes
Toilettenfenster hätte flüchten können. Aber der Mann nutzte diesen Augenblick nicht, ergriff seine Chance nicht. Anschließend hatte er drei Jahre Zeit, seinen Mangel an Entschlussfähigkeit zu bedauern.
478
Mein Gehirn schaltete auf Automatik um, wollte diese Sache nur noch zu Ende bringen. Scheiß auf die Kerle, scheiß auf die Stimmen, scheiß auf die Huey. Ich
wünschte mir fast, sie würden uns sehen.
Die Holzriegel quietschten, als ich
Weitere Kostenlose Bücher