Nick Stone - 04 - Eingekreist
Laub bot Sichtschutz, aber es schützte uns nicht vor
Gewehrfeuer; davor sicher waren wir erst, wenn wir
vom Haus aus nicht mehr zu sehen waren.
»Ich komme, bleib unten, leg dich hin!«
Bei manchen langen Feuerstößen gingen die
Geschosse hoch über uns hinweg, weil die
Gewehrmündungen hochschnellten, aber andere
Feuerstöße waren kürzer, weil die erfahreneren
Schützen nur drei bis fünf präzise Schüsse abgaben.
Gleichzeitig hörte ich den Motor des Land Cruisers
aufheulen.
Ich kroch sechs bis sieben Meter durch den
Dschungel, bis ich sie fand. Carrie lag auf dem Rücken, atmete keuchend und hatte Tränen in ihren weit
aufgerissenen Augen, die groß wie Untertassen waren.
Ihre Cargohose war am rechten Oberschenkel
durchgeblutet, und ein Knochensplitter hatte den festen Stoff durchstoßen. Ihr verletztes Bein schien kürzer als das andere zu sein, und der Fuß lag flach nach außen gedreht auf dem Erdboden. Ein Geschoss musste ihren Oberschenkelknochen durchschlagen haben. Luz hockte über sie gebeugt neben ihr, wusste aber nicht, was sie tun sollte, und starrte nur mit offenem Mund die
Blutflecken auf Carries Hose an.
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Die Schießerei war jetzt ebenso abgeklungen wie das Geschrei, und das Motorengeräusch wurde lauter.
Ich packte Carrie unter den Armen und fing an, sie
rückwärts kriechend durchs Laub in Richtung Senke zu schleifen. Luz folgte uns laut schluchzend auf allen vieren.
»Halt die Klappe! Sonst hören sie dich!«
Wir schafften nur wenige Meter. Carrie schrie
unwillkürlich auf, als ihr verletztes Bein sich irgendwo verfing, und schlug die Hände vor den Mund, um
möglichst keinen Laut herauszulassen. Immerhin
bedeutete ihr Aufschrei, dass sie atmete und Schmerz empfinden konnte, was ein gutes Zeichen war. Aber die beiden machten solchen Krach, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis uns jemand hören würde.
Ich sprang auf, packte Carrie am Handgelenk und
legte sie mir mit einem Rettungsgriff wie ein
Feuerwehrmann über die Schulter. Sie schrie nochmals auf, als ihr verletztes Bein frei in der Luft baumelte, bevor ich es festhalten konnte. Dann stiefelte ich mit langen Schritten durch den Dschungel, stabilisierte mit einer Hand Carries rechtes Bein und hielt mit der
anderen Luz gepackt: an der Hand, am Haar oder am
Genick, je nachdem, was erforderlich war, damit sie mit mir Schritt hielt.
Hinter uns stiegen jetzt erste Leuchtkugeln auf, und ins Brummen des Geländewagens mischte sich wildes
Geschrei. Immer wieder wurden blindlings kurze
Feuerstöße abgegeben. Unsere Verfolger hatten die
Stelle erreicht, wo wir im Dschungel verschwunden
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waren.
Wir brachen durch einen Klumpen Wart-ein-
Weilchen, in dem Carries Bein sich verfing. Sie schrie auf, und ich drehte mich halb um und machte es wieder frei. Ich wusste, dass die zersplitterten Enden ihres Oberschenkelknochens wie eine Schere Muskeln,
Nerven, Sehnen und Bänder durchtrennen konnten –
oder im schlimmsten Fall die Oberschenkelschlagader.
Dann würde sie binnen weniger Minuten verbluten.
Aber was hätte ich sonst tun sollen?
Wir hasteten weiter und erreichten leicht abfallendes Gelände. Ich vermutete, dass wir uns auf Höhe des
Hubschraubers auf der Lichtung rechts neben uns
befanden. Hinter uns waren immer wieder Feuerstöße zu hören, aber der Dschungel schluckte die meisten
Geräusche, und wir schienen die unmittelbare
Gefahrenzone verlassen zu haben.
Die Leuchtkugeln erinnerten mich daran, dass ich
bald Halt machen und Carrie versorgen musste. Dazu
brauchte ich dieses kostbare letzte Licht.
Ich marschierte in Richtung Waldrand, bis ich durch die Bäume auf die Lichtung hinaussehen konnte, und
schleppte dann Luz mit mir zurück, bis wir hinter dem grünen Wall verschwanden. Dort konnte ich Carrie
endlich ablegen, wobei ich darauf achtete, dass ihre Füße dem Waldrand zugekehrt waren.
Die M-16 schossen jetzt nur noch sporadisch – im
höheren Gelände hinter uns –, aber das Geschrei und der Motorenlärm waren kaum abgeklungen. Mir war
das egal: Gab es irgendein Drama, würden wir uns
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einfach in den Dschungel zurückziehen. Im Augenblick kam es darauf an, Carrie zu versorgen.
Sie lag mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem
Rücken und atmete hastig und flach. Meine
Atemfrequenz war ganz ähnlich, als ich wieder zu Atem zu kommen versuchte. Luz kniete über sie gebeugt
neben ihr. Ich richtete sie sanft auf. »Du musst deiner Mom und mir helfen. Ich möchte,
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