Nick Stone - 06 - Feind ohne Namen
der Küche; keine Zeit, richtig hinzusehen; ich konnte mich nur hinwerfen und in den Schatten der Grundmauer kriechen. Scheiß auf die Spuren, die ich hinterlassen würde. Ich wischte mir Sand aus dem Gesicht und kroch zur Ecke vor, um
festzustellen, wer sich dort bewegte.
Suzy ließ Wasser in den Kessel laufen. Sie trug einen weißen Frotteebademantel und hatte ihr feuchtes Haar zurückgekämmt. Ihre Lippen bewegten sich nicht, und sie konzentrierte sich ganz auf den Wasserhahn. Hätte sie mit jemandem gesprochen, hätte ich’s vermutlich gehört.
Im nächsten Augenblick verschwand sie in Richtung Flur.
Ich kroch auf dem Bauch liegend rückwärts und
änderte dann die Richtung. Da meine Bauchtasche über den Boden schleifte, machte ich Halt, um sie zu
verschieben. Unter dem Fenster setzte ich mich mit dem Rücken zur Mauer auf. Ich klopfte Sand aus meinem Sweatshirt und bemühte mich, die feuchte Kälte zu ignorieren, die durch den Hosenboden meiner Jeans kroch.
Ich wartete darauf, dass sie in die Küche
zurückkommen und hoffentlich einen einzelnen Becher Tee aufgießen würde. Der Coldplay-Sound nebenan
störte, aber ich war mir ziemlich sicher, dass aus ihrem Haus kein Laut kam: kein Fernseher, keine Stimmen, keine Musik.
Ein Schatten fiel über den Garten jenseits der
Hintertür. Ich richtete mich kniend auf und hob den Kopf eben weit genug, um durch die Fensterecke sehen zu können. Im Esszimmer brannte kein Licht, und ich sah nur einen schmalen Lichtstreifen, der aus der
Wohnzimmertür über den Läufer im Flur fiel.
Suzy erschien mit einem Becher in der Hand und
verschwand wieder aus meinem Blickfeld. Ich ließ mich auf alle viere nieder, kroch zur anderen Seite des Fensters hinüber und kam dort wieder hoch. Sie lag auf dem Sofa und las eine Zeitschrift. Der Becher stand auf dem kleinen Couchtisch neben ihr, und auf dem Teppich lagen einige weitere Zeitschriften verstreut. Suzy war von teuer aussehenden Tragetaschen umgeben, und Kleider, Hosen und Röcke, an denen noch die Preisschilder hingen, waren über die beiden Sessel verteilt.
Ich blieb in Position und sah auf meine Traser,
während sie in aller Ruhe umblätterte. Es war kurz nach 23 Uhr. Sie musste so erledigt sein wie ich. Warum ging sie nicht endlich schlafen? Wartete sie doch darauf, dass ihr Mann oder ihr Freund nach Hause kam?
Während ich sie weiter beobachtete, achtete ich darauf, dass mein Mund so weit von der Fensterscheibe entfernt war, dass sich keine Atemfeuchtigkeit niederschlug.
Nach einiger Zeit kroch ich um den Wintergarten herum zum Küchenfenster. Der Ausguss war leer; weder am Kühlschrank noch an der gelb geblümten Tapete
klebten Kinderzeichnungen oder Urlaubsfotos.
Am Rand der Arbeitsfläche lag ein kleiner Stapel
Briefe. Ich verrenkte mir den Hals, ohne jedoch lesen zu können, an wen sie adressiert waren. Ich sah nur, dass die Anrede nicht »Mr. and Mrs.« lautete.
Ich glitt wieder vor dem Fenster zu Boden und ruhte mich an die Hauswand gelehnt aus. Ich zog die Beine an, schlang beide Arme um die Knie, legte das Kinn auf die Arme und sah ab und zu auf meine Traser, während mein Hosenboden erneut feucht wurde. Es war noch nicht einmal Mitternacht.
Mein Flug ging um sieben Uhr irgendwas, folglich
musste ich gegen sechs Uhr am Flughafen sein. Das bedeutete, dass ich hier gegen vier Uhr wegfahren musste
– oder besser gegen halb vier, damit ich notfalls einen Reifen wechseln konnte. Also blieben mir noch ungefähr drei Stunden, um Suzy anzusprechen und davon zu
überzeugen, mir zu helfen – oder in den Kofferraum meines Wagens zu verfrachten –, bevor ich anfangen musste, mich für den Flug vorzeigbar zu machen.
Ich saß im nassen Gras, spürte den Sand, der unter meinem Sweatshirt zurückgeblieben war, kratzig auf dem Rücken und dachte an Kelly. Vielleicht hockte sie nur mit ihrem T-Shirt mit Old-Navy-Aufdruck bekleidet in einer Ecke eines schmutzigen Raums: frierend, nass und verängstigt. War sie hungrig? Hatte sie zu trinken? War sie verletzt? Wusste sie, was geschehen war? Es gab noch viele weitere Fragen, die mir durch den Kopf gingen –
Fragen, die ich mir lieber nicht stellen wollte.
Ich kam mir gottverdammt wertlos vor – dabei wollte ich etwas tun, etwas unternehmen, etwas Positives bewirken. Ich ohrfeigte mich in Gedanken. So bekam ich Kelly nie zurück. Ich musste Suzy dazu überreden, mir zu helfen, und dazu war ich hier. Das war positives Handeln. Nur das war sinnvolles
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