Nick Stone - 06 - Feind ohne Namen
zu bekommen.«
Ich öffnete den Mund, aber Carmen war noch nicht
fertig. »Es gibt noch was anderes Nick. Uns ist es peinlich, das zugeben zu müssen, weil wir ihre
Großeltern sind, aber weißt du … Nun, tatsächlich sind wir nicht im Stande, uns richtig um sie zu kümmern –
jedenfalls nicht für länger als ein bis zwei Tage. Wir lieben sie natürlich sehr, aber es ist einfach zu nervenaufreibend. Wir können es nicht ertragen, dass sie so leidet, dass sie zu einer Psychiaterin muss und so weiter. Stieße Josh und dir etwas zu, könnten wir uns bestimmt nicht selbst um sie kümmern, und was dann?
Und Kelly … Was wäre mit ihr, wenn dir etwas zustieße? Ich bin sicher, dass Josh sein Bestes tun würde, aber wie könnte Kelly überleben, wenn sie alles ein zweites Mal durchmachen müsste? Ich weiß, dass du uns für zwei alte Dummköpfe hältst, aber wir machen uns Sorgen. Wir machen uns die ganze Zeit Sorgen.«
Nun war die Reihe an mir, verlegen wegzusehen.
»Bestimmt haben wir’s alle nicht leicht, was? Aber die Aussichten sind gar nicht so schlecht, glaube ich. Kelly setzt ihre Therapie in den Staaten fort, und ich bin in zwei bis drei Wochen wieder bei ihr. Wir kommen euch besuchen, sobald wir können, und dann ist es so, als ob nie etwas passiert wäre.«
Sie sah mich erwartungsvoll an. Ich wusste nicht recht, was von mir erwartet wurde, deshalb stand ich einfach auf. Beide lächelten unbehaglich, bevor Jimmy
stammelte: »Wir … Wir f-f-fahren mit einem schwarzen Taxi zurück. Der müsste sich auskennen.«
Ich hielt es für besser, ihnen noch etwas Arbeit
abzunehmen. »Passt mal auf, am besten bleibt ihr hier, und ich ziehe los und hole Kelly ab, okay? Dann habe ich unterwegs Gelegenheit, mit ihr zu reden. Meine Einkäufe lasse ich inzwischen hier.« Sie lächelten mir zu, als ich mich abwandte und davonging, aber mit Ausnahme von Kelly hatte ich vermutlich noch nie einsamer wirkende Menschen gesehen als diese beiden alten Leute.
27
Es würde nicht leicht sein, ihr die schlimme Nachricht beizubringen. Früher hätte ich einfach gelogen, aber irgendwie konnte ich das nicht mehr.
Ich kontrollierte nochmals die Signalstärke, als ich das Wartezimmer betrat und mich mit einer Zeitschrift hinsetzte. Es dauerte nicht lange, bis Kelly gemeinsam mit Dr. Hughes aufkreuzte. Sie verabschiedete sich kurz von der Ärztin, weil sie glaubte, sie würden sich am Dienstag Wiedersehen. »Wo sind Granny und Gramps?«
»Die sitzen im Café um die Ecke und trinken eine
Tasse Tee. Möchtest du auch eine?«
Wir traten in die Aprilsonne hinaus, und ich bereitete mich darauf vor, das heikle Thema anzuschneiden – aber Kelly kam mir zuvor. »Nick, kann ich dir was erzählen?«
»Natürlich. Falls es nicht etwas Schreckliches über mich ist.«
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, dann wurde sie wieder ernst. »Ich wollte dir erzählen, worüber Dr.
Hughes und ich gesprochen haben. Sie ist wirklich brillant, Nick. Ich kann ihr alles erzählen, und sie scheint es echt zu verstehen. Als ob ich mit Vronnie reden würde
– nur dass ihre Ratschläge vernünftig sind.«
Ich ergriff ihre Hand und drückte sie. Kelly glaubte vermutlich, dass ich das tat, weil ich mit ihr zufrieden war. Sie blickte zu mir auf. »Die Sache ist nämlich, Nick, dass ich mich – nun, nicht die ganze Zeit, aber doch ziemlich oft – selbst krank gemacht habe.«
Ich widerstand dem Drang wegzusehen. Sie sollte
nicht glauben, ich sei von ihr angewidert oder wüsste das alles bereits. Wenn mich jemand anwiderte, dann war ich es selbst. »Tatsächlich? Und wieso hast du das getan?«
»Nun, du weißt, dass ich als Wahlfach Gymnastik
habe, nicht wahr? Wenn wir zusammen sind, zählen wir gegenseitig unsere Rippen, und wenn sie schwer zu zählen sind, bedeutet das, dass man zu dick ist. Vronnie macht auch Gymnastik, und sie hat mich eines Tages in die Seite gekniffen und etwas Fett zu fassen bekommen, und ich bin total ausgeflippt. Am selben Abend habe ich nach dem Essen einen Finger in den Hals gesteckt, bis ich mich übergeben musste. Das war grässlich, aber ich hab’s noch öfter getan, und es war immer weniger
schlimm, sodass es jetzt eigentlich ganz leicht ist.«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich konnte es kaum fassen, dass Kellys Enthüllungen
ausgerechnet jetzt kamen.
Ich fühlte mich wie Carmen, die nach Worten rang.
»Willst du das Granny und Gramps erzählen?«
Sie blickte zu Boden und schüttelte
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