Nick Stone - 06 - Feind ohne Namen
Zeug überhaupt bestellt hatte.
Ich kam rechtzeitig in The Moorings an, aber die
anderen waren noch nicht da. Die Empfangsdame wusste nichts von einer telefonisch angekündigten Verspätung, deshalb rief ich von ihrem Telefon aus den Bungalow an, hörte aber nur die Ansage einer Mailbox der British Telecom. Carmen vermurkste jeden Anrufbeantworter, indem sie auf die falschen Knöpfe drückte. Da war es viel vernünftiger, diesen Job der BT zu überlassen.
Dr. Hughes betrat das Wartezimmer mit einem
Lächeln, das mich vermuten ließ, sie habe erwartet, hier nicht mich, sondern Kelly anzutreffen.
»Ihre Großeltern bringen sie her.« Ich erwiderte ihr Lächeln. »Vielleicht stecken sie irgendwo im Stau.«
Hughes nickte. »Gut, dann bleiben wir einfach hier und warten ein bisschen, ja? Was würden Sie zu einer Tasse Tee sagen? Catherine, könnten Sie das für uns organisieren?«
Kein Wunder, dass Kelly sich in ihrer Gegenwart
sicher fühlte. Hughes mochte auf den ersten Blick unnahbar wirken, aber sie hatte etwas an sich – eine irgendwie beruhigende Aura –, das es unmöglich machte, sich in ihrer Nähe nicht zu entspannen.
»Dr. Hughes, ich muss mit Ihnen reden. Bei mir hat sich einiges geändert, fürchte ich.«
»Ich höre Ihnen gern zu, Mr. Stone. Aber nehmen Sie doch bitte Platz.«
Wir saßen uns durch den Glastisch getrennt gegenüber.
Die Halbmondbrille rutschte fast von ihrer Nasenspitze, als sie mich aufmerksam ansah.
»Kelly fliegt morgen nach Amerika zurück, daher ist heute leider der letzte Tag, an dem sie kommen kann.«
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, aber ich hörte Besorgnis in ihrer Stimme. »Halten Sie das für klug? Sie hat noch …«
Ich unterbrach sie mit einem Kopfschütteln. »Ich bin gern bereit, die Kosten für schon eingeplante weitere Termine zu tragen. Ich weiß wirklich zu schätzen, was Sie alles für uns getan haben, und wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir jemanden an der Ostküste
empfehlen könnten, der Kelly helfen kann, ihre Probleme zu bewältigen.«
Sie schien zu erkennen, dass weitere Diskussionen zwecklos gewesen wären. »Also gut, Mr. Stone, ich verstehe. Vermutlich wieder Ihre Arbeit?« Ihre Stimme klang mitfühlend, nicht vorwurfsvoll.
Ich nickte. Dr. Hughes und ich hatten schon viel
gemeinsam mitgemacht. Vor drei Jahren und
Zehntausenden von Pfund war ich erstmals mit Kelly, die dringend Hilfe brauchte, zu ihr gekommen. Kelly glich einem großen Eimer mit Löchern – sie nahm alles in sich auf, aber dann tropfte es wieder heraus. In dem Internat, in dem sie war, bevor Josh sie zu sich nahm, begann sie, über »Schmerzen« zu klagen, konnte sie jedoch nie genau beschreiben oder auch nur lokalisieren. Dieser Zustand verschlimmerte sich langsam, und Kelly zog sich allmählich von ihren Freundinnen, ihren Lehrern und ihren Großeltern zurück. Sie wollte nicht mehr reden, nicht mehr spielen; sie sah nur noch fern, hockte trübselig herum oder schluchzte leise vor sich hin. Meine Reaktion hatte meistens darin bestanden, dass ich losfuhr und Eiscreme kaufte. Ich wusste, dass das keine Lösung war, aber mir fiel auch keine andere ein.
An einem bestimmten Abend in Norfolk war Kelly
besonders abweisend und distanziert gewesen, und ich hatte es nicht geschafft, sie für irgendwas zu
interessieren. Ich kam mir wie ein kleiner Junge vor, der um eine Rauferei auf dem Spielplatz herumspringt, ohne zu wissen, was er tun soll: mitmachen, sich
dazwischenwerfen oder einfach weglaufen. Zuletzt hatte ich das Zelt in ihrem Zimmer aufgestellt – es auf dem Fußboden festgenagelt –, und wir hatten Camping
gespielt. Später schrak sie aus grässlichen Alpträumen hoch und schrie bis Tagesanbruch. Ich versuchte, sie zu beruhigen, aber Kelly schlug nach mir, als habe sie einen Anfall. Am nächsten Morgen telefonierte ich etwas herum und erfuhr, dass die Wartezeit für einen Termin bei einem Psychologen des staatlichen
Gesundheitsdienstes ein halbes Jahr betrug und ich selbst dann von Glück würde sagen können, wenn der Besuch etwas nützte. Also telefonierte ich weiter herum und fuhr noch am selben Nachmittag mit ihr zu Dr. Hughes.
Ich konnte mich etwas in Kelly hineinversetzen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Ich hatte erlebt, wie Männer an Kriegsneurosen litten, aber das waren große Kerle gewesen, die im Krieg gekämpft hatten. Hughes hatte mir erklärt, für ein Kind sei ein Trauerprozess nach einem Verlust normal – aber nach einem
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