Nick Stone 06 - Feind ohne Namen
verschwand in Richtung Toilette, als wollte sie mir Zeit lassen, über meine Antwort nachzudenken.
Kelly blieb zehn Minuten lang weg, und als sie herauskam, wartete ich am Ausgang. Wir stiegen wieder ins Auto und fuhren schweigend nach Bromley weiter, während ein starker Geruch nach Zahncreme und Mundwasser in der Luft hing.
13
London Freitag, 9. Mai, 8.30 Uhr
Kelly lag noch im Bett, als ich auf Zehenspitzen hereinkam und meinen Schlafsack neben mein übriges Gepäck fallen ließ. Ich schlief auf der Couch im Wohnzimmer, das ich aber vor acht Uhr räumen musste. Gestern Abend hatte jemand aus der Klinik angerufen, um mit mir zu vereinbaren, wann Dr. Hughes mich heute Morgen anrufen konnte. Die Psychiaterin hatte zugesagt, mir irgendeinen Hinweis zu geben, wie es weitergehen sollte und zu welchen Schlussfolgerungen sie nach dem ersten Gespräch mit Kelly gelangt war.
Carmen und Jimmy mampften Müsli und Toast in der Küche, deshalb entschuldigte ich mich und verzog mich mit einem Becher Kaffee in den Vorgarten. Mein Handy klingelte pünktlich zur vereinbarten Zeit. »Guten Morgen, Mr. Stone.« Ihr Tonfall war sehr sachlich; sie hatte offenbar noch eine Menge Telefongespräche zu führen. »Ich möchte Ihnen zwei Fragen stellen. Die Verätzungen an Kellys rechtem Zeigefinger - können Sie mir sagen, wie sie sich die zugezogen hat?«
»Sie hat gesagt, das sei in der Schule passiert - im Physikunterricht.«
»Isst sie normal?«
»Wie ein Scheunendrescher.« Ich zögerte. »Hören Sie, sie hat mir von dem Vicodin erzählt.«
»Tatsächlich? Das ist gut. Waren Sie besorgt?«
»Sollte ich das sein? Ich habe mir nichts anmerken lassen, als sie davon geredet hat, aber es hat mir Sorgen gemacht. Ich habe mir kurz vorgestellt, wie Drogendealer vor dem Schultor herumlungern, aber in Wirklichkeit weiß ich nichts über dieses Zeug.«
»Vicodin ist ein Opiat mit dem gleichen Wirkstoff wie Heroin und Kodein und kann zu schwerer Abhängigkeit führen. Darüber können wir eingehender sprechen, wenn Sie wieder hier sind. Da Kelly bereits mit Ihnen darüber gesprochen hat, könnten Sie vielleicht gemeinsam in meine Sprechstunde kommen.« Sie hielt einen Moment inne und sagte dann: »Mr. Stone, ich fürchte, dass sie außerdem an Bulimie leiden könnte. Die Verätzungen an ihrem Finger könnten sehr gut von ihrem eigenen Magensaft stammen. Ich vermute, dass sie sich den Finger in den Hals steckt, um sich zu erbrechen, wobei er an den Zähnen reibt. Das ist ein Problem, das bei Mädchen ihres Alters häufig auftritt, aber keine Komplikation, die in Kellys Fall willkommen wäre.«
Ich kam mir plötzlich wie ein Idiot vor. »Sie putzt sich dauernd die Zähne und benutzt Mundwasserstrips, als könnten sie außer Mode geraten.«
»Aha. Haben ihre Monatsblutungen schon eingesetzt?«
»Letztes Jahr.« Josh hatte Tampons in ihrer Schultasche gefunden, und Kelly hatte sich damals gleich sehr erwachsen gefühlt.
»Wissen Sie, ob sie noch welche hat?«
»Nein, ich bin nicht sehr . « Ich fragte mich, worauf sie hinauswollte.
»Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Vielleicht muss ich Ihnen im Lauf der Zeit noch weitere Fragen dieser Art stellen. Hier geht’s nur darum, dass die Regel bei Frauen ausbleibt, die an extremer Bulimie leiden.«
»Das ist eine ziemlich häufige Krankheit, sagen Sie?« Ich kam mir allmählich wie ein Volltrottel vor. Diese Kleine brauchte nicht mich und die Gottestruppe in ihrem Team, sie brauchte ihre Mom.
»Bis zu einem Fünftel der Mädchen in ihrem Alter leidet daran. Es beginnt als Mittel zur Gewichtskontrolle und entwickelt dann ein Eigenleben. Fressorgien und Erbrechen sind das süchtig machende Verhalten. Ja, sie hat freiwillig zugegeben, dass sie ein Drogenproblem hat, aber die Bulimie hat sie bisher nicht eingestanden. Ich wollte nur, dass Sie das wissen, weil wir vermutlich einen langen, steinigen Weg vor uns haben.«
Während ich ihr zuhörte, kam das Signal für einen weiteren Anruf. Ich ignorierte es und sprach lauter, um das Piepsen zu übertönen. »Immerhin muss es gut sein, dass sie offen mit mir redet, finden Sie nicht auch?«
»Ja, natürlich. Aber wir können die Möglichkeit nicht unberücksichtigt lassen, dass Kelly das tut, weil sie zornig auf Sie ist. Vielleicht will sie Sie schockieren und verletzen.«
»Wozu würde sie mir dann die Bulimie
verheimlichen? Würde sie nicht aufs Ganze gehen und mich auch damit schockieren?«
»Schon möglich. Ich wollte Sie jedoch nur
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