Nick Stone 06 - Feind ohne Namen
Fahrgäste, die zusteigen wollten, schlurften nach vorn an die Bahnsteigkante. Marineblau und die beiden anderen standen von der Bank auf und schlossen sich den Zusteigenden an. »Scheiß auf die beiden anderen, die kennen uns nicht. Wir bleiben an dem Informanten dran. Du nimmst den Wagen hinter
ihm, ich den vor ihm.«
Sie gab mir meine Tageskarte und steckte ihre in den Entwerter am Drehkreuz. Als die Sperre gelöst wurde, gingen unter uns die Zugtüren auf. Ich folgte Suzy durchs Drehkreuz und hastete hinter ihr die Treppe hinunter. Sie ging rasch die andere Bahnsteighälfte entlang, wobei sie die Reklametafeln als Deckung benutzte. Mein Blick blieb auf den Hinterkopf des Informanten gerichtet. Um möglichst in seiner Nähe zu bleiben, musste ich in den Wagen unmittelbar vor seinem steigen. Ich folgte Suzy, hielt den Kopf gesenkt und mischte mich unter die wartenden Fahrgäste, bis sie an ihm vorbei war. Dann ging ich rasch zu meinem Wagen zurück, als der Informant in den Zuge stieg.
Scheiße. Marineblau war zu demselben Wagen wie ich unterwegs. Umkehren konnte ich nicht mehr: Ich musste einsteigen, bevor die U-Bahn ohne mich abfuhr. Die Frau setzte sich so hin, dass sie dem Bahnsteig den Rücken kehrte, und das tat auch Marineblau. Ich nahm ihr gegenüber Platz und bemühte mich, mich nicht in ihren Tragetaschen zu verheddern.
Der Wagen war nur halb besetzt. Einige Jugendliche blieben stehen, weil sie cool aussehen wollten, aber alle anderen saßen. Ich blickte nach rechts durch die Verbindungstür zum nächsten Wagen, konnte aber den Informanten nicht sehen. Ich stand halb auf, beugte mich nach vorn und griff nach einer liegen gebliebenen Beilage des Guardian auf einem der Sitze links neben der Schwarzen. Während eine Tonbandstimme uns alle aufforderte, auf den Spalt zwischen Bahnsteigkante und
Wagenboden zu achten, erhaschte ich einen Blick auf unseren Mann, der etwa in der Mitte des nächsten Wagens auf meiner Seite saß. Ob der Informant wusste, dass er beschattet wurde, war nicht zu erkennen. Marineblau ahnte jedenfalls nichts davon. Er ließ seine Hände zwischen den Knien hängen und starrte ausdruckslos geradeaus. Das war’s vorläufig; ich durfte ihn nicht länger ansehen und erst recht keinen Blickkontakt herstellen: Ich wollte nicht jemand sein, an den er sich später erinnern würde.
Die Türen schlossen sich, und der Zug fuhr rumpelnd an - zunächst noch oberirdisch, auch wenn die schmuddeligen Klinkermauern auf beiden Seiten sehr nahe an den Zug heranrückten. Ich studierte den Streckenplan über dem Kopf der Frau und stellte fest, dass dies ein Zug der Circle Line war. Ich spürte, dass ich leicht von einer Seite zur anderen schwankte, während die U-Bahn beschleunigte und dann wieder langsamer wurde. Ich spielte mit dem Handy, als wollte ich eine Nummer wählen, hob das Mikrofon an die Lippen und lächelte, als sei eine Verbindung zustande gekommen. »Hi, wie geht’s dir?«
Ich konnte sie kaum verstehen, weil der Zug über Weichen ratterte, daher hielt ich das Nokia ans Ohr und zog den Ohrhörer der Freisprecheinrichtung heraus.
»Mir geht’s gut. Kommst du heute mit ihm zusammen?«
Meine Lippen berührten fast das Mikrofon. »Ja, ich sehe zwei. Wir werden uns bald verlieren.«
Sie kicherte, als habe sie etwas Lustiges gehört. »Das denke ich auch. Klingt wunderbar, finde ich.« Ich vermutete, dass neben ihr jemand saß. Vielleicht sogar Grausträhne. Sie verstummte, und ich kontrollierte die Signalstärke. Das Signal verschwand, als ein Tunnel unseren Zug verschluckte. Ich sah mich nach meinen Mitreisenden um. Sie befanden sich alle in ihren kleinen Welten, lasen Bücher oder Zeitschritten und vermieden jeglichen Blickkontakt mit den Gegenübersitzenden. Manche machten es wie Marineblau, saßen einfach nur da und ließen die Köpfe hängen. Links neben mir zupfte der Mann mit dem Aktenkoffer zwischen den Füßen zwanghaft winzige Fusseln von seiner Cordsamthose.
Die Schwarze beugte sich nach vorn, wühlte raschelnd in einer ihrer Tragetaschen, zog ein Exemplar von Hello! heraus und begann, darin zu blättern. Ich stellte mir vor, wie der Cordsamtene sich im Berufsverkehr durchs Gedränge auf den Bahnsteigen schlängelte und seine tödliche Ladung aus Dark-Winter-Erregern durch ein kleines Loch im Boden freisetzte. Kein Mensch würde ihn eines zweiten Blickes würdigen, während er im Untergrund unterwegs war. Er konnte so weit gehen, wie er wollte, bevor er eine neue Ladung holen
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