Nick Stone 07 - Schattenkiller
befand sich Jerry im Pulitzer-Modus. »Es gibt hier nicht genug Licht. Können wir mehr bekommen?«
Nuhanovic nickte und sah zum Holzgitter. »Das sollte eigentlich möglich sein.«
Jerry zog die Zellophanhülle von der ersten Kamera und überprüfte das Zimmer nach Licht, Blickwinkeln oder was auch immer.
Nuhanovic aß weiter, aber ich spürte seinen Blick. Die Tür öffnete sich, und die beiden Männer kamen erneut zu uns, jeder von ihnen mit einer Öllampe. Jerry zeigte ihnen, wo sie die Lampen hinstellen sollten, und rückte sie dann zurecht, als die Burschen Feuerholz nachlegten und uns wieder verließen. Die AK-Jungs standen noch immer auf der anderen Seite der Tür und starrten uns an.
Jerry machte sich für die erste Aufnahme bereit. »Haben Sie was dagegen, wenn ich mich bewege und es aus verschiedenen Richtungen versuche?«
Nuhanovic sah nicht auf, nickte nur und hörte auf zu kauen. Als Jerry erneut die Lampen zurechtrückte und sich mit seinem Fotografenkram beschäftigte, beugte er sich zu mir vor, mit den Ellbogen auf den Oberschenkeln. »Ich möchte ebenfalls darüber sprechen, was bei der Zementfabrik geschehen ist, Nick. Aber bitte sagen Sie mir vorher: Warum waren Sie da? Und was genau haben Sie gesehen?«
94
Blitzlicht huschte durchs Zimmer, als ich Nuhanovic alles erzählte, abgesehen vom wahren Grund für meine Präsenz an jenem Ort. Stattdessen behauptete ich, mir wäre die Kamera gestohlen worden und ich hätte mich verstecken müssen, als die Laster kamen.
Jerry machte ein Bild nach dem anderen, und jedes Mal summte die Kamera wie ein kleines Düsentriebwerk.
Ich schilderte alles, vom Eintreffen der Lastwagen bis zu Nuhanovics Auseinandersetzung mit Mladic. »Eine Gruppe von Mädchen blieb zurück, als Sie die alte Zementfabrik verließen ...«
Er sah mich die ganze Zeit über an.
»Sie wurden systematisch vergewaltigt. Eines stürzte sich aus dem Fenster im dritten Stock.«
Ich suchte nach Bestätigung, aber so einfach sollte ich sie nicht bekommen. Nuhanovic senkte den Blick, nahm ein wenig Reis und rollte ihn zu einer Kugel. Jerry summte noch immer um uns herum, wie eine Arbeitsbiene mit einer wichtigen Mission.
»Viel später fand ich heraus, dass eine von ihnen Zina hieß. Sie war erst fünfzehn. Nachdem das andere Mädchen aus dem Fenster gesprungen war und man ihre Reste von Mladics Wagen gekratzt hatte, floh sie in Richtung der Bäume, wo ich mich versteckte.«
Nuhanovic beobachtete die Reiskugel auf dem Weg zum Mund.
»Die Serben lachten nur. Einige von ihnen lachten so sehr, dass es ihnen schwer fiel, richtig zu zielen. Als Zina mich sah, blieb sie verwirrt stehen, blickte zu den Serben zurück und dann wieder zu mir. Ich erinnere mich genau an ihren Gesichtsausdruck. Und dann traf sie eine Kugel im Rücken. Sie fiel direkt vor mir zu Boden. So nahe, dass mich Schlammspritzer trafen. Sie kroch auf mich zu, und ihre Augen flehten. Und ich habe nichts getan, um ihr zu helfen, als sie starb. Ich werde ihre Augen nie vergessen .«
Ich riss erneut Brot ab und griff nach einem weiteren Stück Fleisch. »Noch lange Zeit danach lag ich nachts wach und fragte mich, was sie jetzt machen würde, wenn sie noch am Leben wäre. Vielleicht wäre sie Mutter, vielleicht Fotomodell. Sie sah gut aus.«
Nuhanovic hob langsam den Blick, als er schluckte.
Jerry drückte den Auslöser, und das Blitzlicht ließ ihn blinzeln. Für einen Moment wirkte er überrascht.
»Das ist eine sehr bewegende Geschichte, Nick, aber ich finde sie auch verwirrend. Um ganz ehrlich zu sein, ich war von dem Augenblick an verwirrt, als Ramzi mir von Ihnen erzählte. Ich musste mich fragen: Warum befand sich ein Westler an jenem besonderen Tag in diesem Teil von Bosnien? Er kann nur ein Reporter, Soldat oder Spion gewesen sein. Ich war fasziniert. Deshalb meine Einladung. Und ich bin noch immer fasziniert. Sie sagen, Sie waren als Reporter da, aber ich habe nie einen Bericht darüber gesehen, dass Mladic an jenem Tag Muslime ermordete. Warum? Ein Journalist hätte sicher nicht gezögert, eine solche Story zu bringen. Sie hätte überall auf der Welt Schlagzeilen gemacht. Aber nein . kein Bericht. Ich glaube, es liegt daran, dass Sie kein Reporter sind, Nick. Was bedeutet, dass Sie als Soldat oder Spion dort waren. Aber reden wir nicht um die Sache herum: Der Unterschied zwischen diesen beiden Möglichkeiten ist irrelevant.« Nuhanovic wandte den Blick nicht von mir ab. »Befriedigen Sie meine Neugier, Nick.
Weitere Kostenlose Bücher