Nicodemus
schwarzen Türmen. Fledermäuse jagten durch die kühle Luft. Unter ihm, in fast zweihundert Fuß Tiefe, lagen die mit Unkraut überwucherten Gärten und steinernen Wege des Chthonische Viertels.
Während er in den nächsten Tunnel trieb, ging ihm auf, dass die Wasserspeier ihn in einen Kanal geworfen hatten. Von der Strömung wurde er nach Nordwesten gespült, durch mehrere Türme hindurch, über Aquädukte hinweg, bis er schließlich in einer Messingzisterne im Spirischen Viertel landete. Nicodemus dankte allen Göttern und ihm bekannten Wasserspeiern, hievte sich aus dem Wasser und lief los.
Zunächst rannte er ziellos davon, denn er fürchtete, Fellwroth könnte ihm gefolgt sein. Doch sobald er sich vergewissert hatte, dass er entkommen war, orientierte er sich erst einmal in der Gegend. Er schlich in ein Gebäude an der Straße und versteckte sich in einer Putzkammer, um zu verschnaufen und seine Kleider zu trocknen.
Zu seiner großen Überraschung war der Index auf wundersame Weise trocken geblieben. Wieder und wieder drehte er das Buch in den Händen, um herauszubekommen, warum nicht einmal eine Seite feucht geworden war. Doch er fand keine Erklärung. Und noch während er das Buch hin und her wendete, verflog seine anfängliche Euphorie über seine gelungene Flucht. Seine Narbe begann zu brennen und ihm zitterten die Hände.
Erst dachte er nur an Kyrans grausamen Tod. Dann fiel ihm der Satz wieder ein, den ihm der Druide kurz zuvor noch in die Schulter geschrieben hatte. Nicodemus zog die Zeile hervor und übersetzte sie.
Kyrans letzten Worte lösten eine lähmende Taubheit in ihm aus, wieder musste er an Deidre und Devin denken, an John und Magister Shannon. Und an seinen Vater, der ihm als Säugling das Mal eingebrannt hatte.
Und als ihm die Tränen in die Augen stiegen, versuchte er erst gar nicht, sie aufzuhalten.
Kapitel 30
Nicodemus spähte hinter einem Wandteppich hervor, den Index fest an die Brust gepresst.
Er befand sich am westlichsten Punkt Starhavens, in der großen Halle des Torhauses. Der Eingang zur Akadamie lag auf der anderen Seite. Zwei Wachen, beide Frauen, patrouillierten über die Hängebrücke.
In der Hüfte trugen sie den weißen Schriftzug eines Zaubersatzes, in dem ein offenes Zauberbuch steckte. Die Beschwörungsformel »schwebendes Zauberbuch« ermöglichte den Zauberschreiberinnen einen schnellen Zugriff auf die bereits vorformulierten scharfen Worte.
Lautlos glitt Nicodemus wieder hinter den Wandteppich, er schloss die Augen und rief sich den Samaragd aus seinen Träumen ins Gedächtnis. Der Stein hatte die Form einer kleinen, makellosen Träne, und in seiner Mitte glomm ein grüner Funke. Dies war der fehlende Teil seiner selbst.
Ein Schauder überlief ihn. Gäbe es diesen Edelstein nicht, wäre er auch kein Kakograph. Und was noch viel wichtiger war, Kyran und Devin wären noch am Leben.
In Nicodemus’ Vorstellung strahlte der Samaragd immer heller, und seine Entschlossenheit wuchs, sich den fehlenden Teil seiner Person zurückzuholen. Mit diesem inneren Bild hatte er in der Putzkammer seinen Tränenfluss stoppen können. Und so würde er auch jetzt die Tränen zurückhalten.
Die Flammen des Steins verzehrten all seinen Kummer, seine Sorgen, seine Verletzlichkeit. Er musste einen Weg finden, den Smaragd zurückzubekommen und damit wieder ganz er selbst zu werden. Nicodemus tastete in der Geldkatze nach Deidres Findesamen. Sobald er sich weit genug von der Festung entfernt hätte, würde erdie Wurzel zerbrechen, um die Druidin seinen Standort wissen zu lassen.
Erneut lugte Nicodemus hinter dem Wandteppich hervor und nahm die beiden Wachen in Augenschein. Die Jüngere war blass und hatte langes, schwarzes Haar. Er kannte sie nicht. Doch die ältere Wächterin mit dem silbergrauem Haar und dem dunklen Gesicht kam ihm irgendwie vertraut vor. Wenn er sich recht erinnerte, war sie eine von Starhavens führenden Numinusautorinnen.
Er biss sich auf die Lippen und verschwand wieder in seinem Versteck. Vielleicht sollte er riskieren, zur Narrenleiter zurückzukehren. Nie würde es ihm gelingen durch die Haupttore zu entkommen. Um an diesen Wachen vorbeizukommen, müsste er schon unsichtbar sein.
Da blitzte eine Idee in ihm auf.
Vielleicht konnte er ja einen Unsichtbarkeitszauber ausfindig machen, der so simpel war, dass er die etwaigen Fehler, die der korrumpierte Index womöglich einfügen würde, korrigieren konnte.
Nicodemus schlug das Buch auf. Zunächst wurde er
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