Nicodemus
Nicodemus die Hand wieder vom Index, und sein Geist kehrte zurück in seinen Schädel. Wie zuvor nach dem Übergang von Buch zu Kopf verspürte er nun eine seltsame gedankliche Enge.
Nicodemus klappte den Index zu. Die beiden Wachen standen am Tor und unterhielten sich über die andauernde Wurmplage. Anscheinend hätten noch weitere Zauberer das Haupttor bewachen sollen, doch der Provost hatte sie zur Jagd auf die Runenwürmer abkommandiert.
Leise schlich eine der Festungskatzen über den Gang. Nicodemus funkelte das Katzentier böse an, um es davon abzuhalten, näher zu kommen und ihn noch zu verraten. Die Fackeln flackerten im Luftstoß.
Nicodemus atmete tief durch und widmete sich dann wieder dem Sceaduganga-Zauber. Da der Index korrumpiert war, enthielt auch dieser Text kleine Fehler. Deshalb musste er sich hüten, den neugelernten Zauber mit seinem verschreibendem Geist weiter zu beeinträchtigen. Nach einem weiteren tiefen Atemzug machte er sich daran, den Tarntext zu formen.
Obgleich es ihn überraschend viel Kraft kostete, die einzelnen violetten Runen zu bilden, war er binnen weniger Augenblicke fertig. Der Sceaduganga-Zauber verdichtete sich in seiner Hand zu einem Zylinder. Misstrauisch betrachtete Nicodemus seinen ersten Versuch, in einer neuen Sprache zu schreiben. Höchstwahrscheinlich strotzte der Text nur so vor Fehlern. Nicodemus entließ den Zauber in die Luft und rechnete damit, dass er gleich wieder zu Boden stürzen würde.
Doch das tat er nicht.
Stattdessen schoss er pfeilschnell nach oben und prallte gegen die Decke. »Flammendes Blut!«, stöhnte er, als violette Textfragmente auf ihn herabregneten. Beim zweiten Anlauf verhielt sich der Zauber wie es sich für einen Schreibfehler gehörte und sank lehrbuchmäßig zu Boden. Der dritte Zauber schoss quer durch den Flur auf die Katze zu und machte sie unsichtbar. Den Ratten würde das wenig behagen.
Der vierte Zauber stürzte zu Boden wie der zweite, während der fünfte sich bereits in Nicodemus’ Hand auflöste. Er geriet zunehmend in Wut. Am liebsten hätte er irgendetwas anderes als den Sceaduganga-Zauber zerschlagen.
Auf einmal machte sich sein Keloid schmerzhaft bemerkbar. Er legte die Hand darauf: Das Mal war heiß wie kochendes Wasser. Zweimal war ihm das bislang auf dem Weg zum Haupttor passiert. Besorgt dachte er an die letzten Worte des Smaragds: »Gib auf die Narbe Acht, sie wird dich an Fellwroth verraten.«
Nicodemus konnte sich nicht recht vorstellen, was der Stein damit gemeint hatte. Und jetzt war auch nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Er musste schleunigst aus Starhaven verschwinden.
Also atmete er langsam ein und aus, bis sich die Narbe wieder abgekühlt hatte. Danach beugte er sich hinunter, um die zerfallenen Hälften seiner beiden letzten Tarntextversuche genauer anzusehen. Beide Zauber waren an haargenau derselben Stelle in ihrer Sequenz zerrissen. Zweifellos war ihm zweimal der gleiche Fehler unterlaufen.
»Zur Hölle mit meiner Kakographie«, zischte er und kämpfte gegen eine neuerliche Welle von Selbsthass. »Wenn ich doch nur den Smaragd hätte!«
Er zwang sich zur Besonnenheit. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, den Zauber so umzugestalten, dass die schwierigen Passagen herausfielen?
Er ächzte. Vielleicht gab es da etwas. Doch das hieße, sich mutwillig zu verschreiben, dabei hatte er doch sein ganzes Leben gegen die Kakographie angekämpft! Gewiss, als er in den Schildzauber in der Indexkammer absichtlich Fehler hineingebracht hatte, hatte er auf einmal eine vermehrte Kontrolle über den Text verspürt. Doch dieses Vorhaben, vorsätzlich Schreibfehler einzubauen, war noch ungeheuerlicher als seine Kakographie.
In seiner momentanen Lage blieb ihm jedoch kaum etwas anderes ürig: Entweder versuchte er, den Zauber umzuschreiben, oder er versteckte sich so lange in Starhaven, bis ihn entweder der Golem oder die Wächter aufspürten.
Also versuchte er sich erneut an dem Tarntext, diesmal veränderte er den widerspenstigen Absatz mutwillig. Als er fertig war, leuchtete der neue Text in tiefem Purpur.
Die Lippen fest aufeinandergepresst entließ Nicodemus den Zylinder aus seiner Hand; er hing in der Luft und drehte sich immer schneller um die eigene Achse, bis er zu bersten drohte.
Doch der verschriebene Tarntext barst nicht, vielmehr entströmten ihm zwei Sätze. Die wirbelnden Zeilen bedeckten Nicodemus’ Füße und spannen seine Beine in ein Textgewebe ein. Binnen weniger Augenblicke war er von
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