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Nicodemus

Nicodemus

Titel: Nicodemus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Charlton
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sich alles ins Gedächtnis, was er über das Geisterschreiben wusste.
    Das Geisterschreiben praktizierten mächtige Zaubererschreiber, wenn sie das Ende nahen fühlten. Sie schrieben ihre Geister in Numinus und stellten so ein magisches Duplikat von sich her. Die wenigen Geisterschreiber, die Nicodemus je zu Gesicht bekommen hatte, hatten vom Scheitel bis zur Sohle golden geleuchtet.
    Bekannt war ihm auch, dass die Geister nach dem Tod der Zauberschreiber in einer textsicheren Ruhestätte weiterlebten. Starhavens Geister weilten in der Totenstadt unter der Festung.
    Nicodemus erinnerte sich ebenfalls, dass es unterschiedliche Arten verschriebener Geister gab. Ein »Graust« war ein Geist, der andere Texte oder Zauberer angriff. Ein »Guhl« wiederum war ein Geist, der sich weigerte, seinen menschlichen Körper zu verlassen, was ihn zu einem wandelnden Halbtoten machte.
    Zum Glück war der Geist, dem Nicodemus gerade folgte, fehlerfrei geschrieben. Obgleich er durchscheinend war, waren Bild und Sprache kohärent – eine Meisterleistung für einen beinahe tausend Jahre alten Text.
    Gegenwärtig folgte Nicodemus dem Geist eine steile, brüchige Treppe hinab in das zerstörte chthonische Dorf. Über ihnen heulte der Wind immer lauter.
    »Magister«, fragte Nicodemus beim Hinabsteigen, »wie darf ich Euch anreden?«
    Der chthonische Geist blieb stehen und hielt Nicodemus lächelnd drei purpurne Sätze entgegen: »Ihr dürft mich Tulki nennen. In unserer Sprache bedeutet ›Tulki‹ ›Dolmetscher‹. Zu Lebzeiten war ichBotschafter und habe zwischen unserem Volk und Euren Vorfahren vermittelt.«
    Als Nicodemus von der Botschaft aufsah, ruhten Tulkis riesige, bernsteinfarbene Augen auf ihm. Der Geist schrieb sich zwei weitere Sätze in den Arm und hielt sie Nicodemus hin: »Ich nehme an, Eure Vorfahren stammen aus dem Neosolaren Reich. Ihr tragt die schwarzen Roben dieser Gegend.«
    Nachdem er die Worte gelesen hatte, umklammerte Nicodemus den Index noch fester. Die Heere des Neosolaren Reichs hatten die Chthonen mit Hilfe eines jungen Numinusordens niedergemetzelt. »Ich bin gebürtiger Spire«, sagte er.
    Tulki nickte und schrieb ihm seine Antwort: »Ja, mir ist bewusst, dass das Neosolare Reich schon vor langer Zeit untergegangen ist. Ich habe einmal gehört, dass es dem Solaren Reich Eurer Alten Welt nachempfunden war. Gerne hätte ich mehr darüber erfahren. Doch nun folgt mir.«
    Als sich der Geist umdrehte und auf allen Dreien die Treppen hinunterhoppelte, flog ihm sein seidiger Pferdeschwanz über die Schultern. Nicodemus folgte ihm durch die mit Efeu überwucherten Trümmer.
    Unterwegs warf ihm der Geist einen weiteren Absatz zu. Beim Versuch, die Passage aufzufangen, glitt Nicodemus beinahe aus. »Ihr solltet wissen, dass unsere magische Sprache Eure Haut in Mitleidenschaft ziehen wird. Wenn die Nachtwesen Euren Körper verlassen, werdet Ihr Striemen davontragen. Nichts Bleibendes jedoch. Deshalb hat Chimära, unsere Göttin, meinem Volk auch solch zarte und blasse Haut gegeben. Auf dieser Haut konnten wir schmerzlos Zauber schreiben und sie auch wieder ausradieren. Doch gleichzeitig war genau das auch unser Schwachpunkt. Unsere empfindliche Haut war einer der Gründe, warum Eure Vorfahren uns so leicht ausrotten konnten.«
    Beim Lesen verlangsamten sich Nicodemus’ Schritte.
    Der Geist hielt inne und sah sich zu Nicodemus um, dann warf er ihm abermals einen kurzen Text zu. »Seid unbesorgt, ich bin Euch nicht böse. Ich nehme an, auch Ihr seid ein Gelehrter. Seid Ihr nicht zu Forschungszwecken hier?«
    Nicodemus schaute verwirrt auf. »Forschung?«
    Rasch bot Tulki ihm einen neuen Absatz dar. »Seid Ihr etwa kein Eugraph, der eugraphische Sprachen untersucht? Unsere beiden Sprachen, Wrixlan und Pithan, sind nämlich eugraphisch. Was sonst hat Euch hierhergeführt? Ihr haltet einen lebendigen Folianten in der Hand.«
    Nicodemus warf einen Blick auf den Index. »Lebendigen Folianten?«
    Stirnrunzelnd schrieb der Geist seine Antwort: »Die Ursprache des Index hält die Worte auf dem Pergament lebendig. Vielleicht wisst Ihr es nicht, aber unsere Sprachen können nur auf lebendige Haut geschrieben werden. Die Geschöpfe haben sich lieber in dich als in den Index eingeschrieben, weil du ihnen mehr Kraft verleihst. Das macht die Schönheit unserer Sprache aus: Wir können nämlich unsere Körper in Schrift verwandeln.«
    Nicodemus sah Tulki direkt an. »Das verstehe ich nicht.«
    Lautlos hob und senkte sich die Brust

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