Nicodemus
der Hüne, den sie Simple John nennen, sind beide spurlos verschwunden. Gegen Mitternacht haben die jungen Kakographen lautes Geschrei vernommen. Doch bis vor einer Viertelstunde waren sie zu eingeschüchtert, um ihre Kammern zu verlassen.«
Amadi fluchte. »Aber die Wehre. Niemand hätte aus diesem Turm hinein- oder herausgelangen sollen.«
Kale schlug sich die Hand vor den Mund. »Ich übernehme die volle Verantwortung, Magistra. Es war mein Vorschlag, den Turm unbewacht zu lassen. Offenbar ist es Shannon irgendwie gelungen, Nicodemus den Schlüssel zukommen zu lassen. Es ist alles meine Schuld.«
»Unsinn«, fuhr Amadi ihn an. »Ich hatte das Kommando.« Sie wandte sich zu ihrer Betttruhe um. »Wecke die Wächter. Alarmiere die Wachen. Ich möchte, dass diese Suche beginnt, noch bevor ich vollständig angekleidet bin. Die Getreuen des Provost informiere ich selbst.«
Kale nickte und drehte sich zum Gehen.
»Warte Kale, als erstes schaue ich mir die tote Kakographin an. Zwei unserer Wächter hätte ich gerne dabei. Wo ist der Mord geschehen?«
Kale blieb in der Tür stehen und schaute sich zu ihr um. »Im obersten Stock des Speicherturms. Ich schicke Euch umgehend zwei Zauberschreiber. Angefasst wurde nichts … aber die Leiche, Magistra, sie sieht … grausig aus.«
Eine Viertelstunde später beugte sich Amadi über das tote Mädchen.
Ihr Gesicht war zerquetscht worden. Die Leiche lag inmitten einer Lache geronnenen Bluts. »Dieser Mörder ist ein Stümper«, sagte Amadi zu dem hinter ihr stehenden Wächter. »Er muss irgendeine Art plumpen Schrotzauber verwandt haben.«
Amadi presste die Zähne aufeinander. Sie war sich fast sicher, dass Shannon ein doppeltes Spiel trieb. Zweifellos stand der alte Zauberer im Sold eines adligen Analphabeten. Warum hätte er sonst so viel Geld in seinem Quartier versteckt? Warum hätte er sonst mit der Runenwurmplage in Verbindung stehen sollen?
Allerdings deutete nun alles darauf hin, als hätte sie es mit zwei Mördern zu tun. »Das ist das Werk eines Kakographen«, sagte sie entschlossen. »Entweder war es Nicodemus oder der Hüne.«
Amadi fragte sich, ob Nicodemus Nora Finn auf Shannons Geheiß hin umgebracht hatte. »Ihr dort«, sagte sie zu einem der Wächter. »Geht hinüber zum Sommerturm und weckt Shannon. Er soll mir ein paar Fragen beantworten.«
Mit einem Kopfnicken verschwand der Mann.
»Rätselhaft, woher all dieser Staub kommt«, murrte Amadi und begann im Zimmer auf- und abzuschreiten. Größtenteils war ergleichmäßig im Raum verteilt, doch neben der Tür lag ein ganzer Haufen davon und darüber eine Art Bettlaken. Noch seltsamer waren die Holzsplitter in der Ecke.
»Ihr«, sagte Amadi zu der verbliebenen Wächterin, einer hochgewachsenen Zauberin mit grauem Haar. »Durchsucht alle Zimmer im Speicherturm und erstattet mir sofort Bericht, wenn ihr irgendwo Spuren von Staub oder Holzsplittern findet.«
Die Frau eilte aus der Tür und Kale erschien. Er kaute auf seiner Unterlippe herum – ein schlechtes Zeichen. »Was ist geschehen, Kale?«
»Nachricht von den Bibliothekaren, Magistra. Eines von Starhavens wertvollsten Artefakten ist verschwunden.«
»Von den Runenwürmern zerstört?«, fragte sie.
Der Sekretär schüttelte den Kopf. »Nein, das Buch befand sich in einer geschützten Kammer der Hauptbibliothek, und die war zu keiner Zeit befallen.«
Amadi schloss die Augen und atmete tief durch. »Lass mich raten: Shannon oder Nicodemus waren die letzten, die das Artefakt benutzt haben.«
Kale nickte. »Es kommt noch schlimmer. Das Artefakt ist ein Nachschlagewerk, ein Index. Mit seiner Hilfe hat man Zugang zu sämtlichen Texten in Starhaven. Und wer ihn genommen hat, hat den Berührmich-Zauber nachgeschlagen.«
»Und woher wissen wir das?«
»Alle Exemplare des Berührmich-Zaubers sind jetzt verschrieben.«
Amadi legte die Stirn in Falten. »Indem sich der Benutzer mithilfe des Index Zugang zu den Texten verschafft, fügt er Fehler in sie hinein?«
Kale nickte. »Und alle Berührmich-Schriftrollen sind ansteckend. Sobald sie mit anderen Manuskripten in Kontakt kommen, werden auch diese vor Fehlern strotzen. Die komplette pädagogische Bibliothek im Marfil-Turm ist damit unbrauchbar geworden.«
»Nicodemus!«, knurrte Amadi. »Wenn der Junge auf einen der Texte aus dem Magazin oder der Hauptbibliothek zugreift, könnte er auf diese Weise die gesamten Starhavener Bestände vernichten.«
Abermals nickte Kale mit dem Kopf.
Amadi fluchte.
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