Nicodemus
»Erst die Wurmplage und nun das. Das leibhaftige Chaos hat in Starhaven Einzug gehalten.«
»Magistra – wollt Ihr damit andeuten …?«
»Zweifelst du etwa daran, Kale? Sieh dir doch nur das Durcheinander an, das sich in Starhaven ausgebreitet hat. Mord, Tod und Korruption haben sich hier breitgemacht. Denk bloß an die Narbe: Die Inkonjunktrune durchbricht den Zopf. Dieser Junge scheint ausersehen, das Chaos zu verbreiten.«
Kale holte tief Luft. »Wir können nicht mit letzter Bestimmtheit sagen, dass sich die Gegenprophezeiung erfüllen wird.«
»Ganz sicher können wir vielleicht nicht sein, aber immerhin haben wir jetzt genügend Hinweise, die unser Handeln rechtfertigen.«
Sie begab sich zur Tür. »Ich werde die Bibliothekare befragen, um mehr über dieses Artefakt zu erfahren. Du gehst zum Erasmusturm und setzt die wachhabenden Zauberer über die Ereignisse in Kenntnis. Sollte es uns nicht gelingen, den Jungen zu schnappen, wird sein Geist wie ein bösartiger Tumor die Seiten unserer Bücher zersetzen. Die wachhabenden Zauberer müssen den Provost wecken und ihm mitteilen, dass wir gerade mit sehr großer Wahrscheinlichkeit unseren Unglücksboten gefunden haben.«
In der Gestalt eines neuen Golem, diesmal aus Ton, fühlte sich Fellwroth viel wohler; er stahl sich durch die Wälder südlich von Starhaven. Bis zum Morgengrauen blieben ihm noch zwei Stunden. Der Himmel war schwarz und die Luft kalt. Der Wind hatte an Stärke zugenommen und heulte nur so durch die Äste.
Seit ungefähr einer Stunde hatte er von Nicodemus’ Keloid überhaupt keine Signale mehr empfangen. Zu diesem Zeitpunkt war Fellwroth gerade damit befasst gewesen, sich einen neuen Golem zu schaffen; so war ihm dessen genauer Aufenthaltsort entgangen.
Dennoch war die letzte Botschaft eindeutig aus diesem Wald gekommen – deshalb durchkämmte Fellwroth systematisch dieses Gebiet. Gerade verfolgte er die Spur eines Rehs in ein dicht von Ulmen bewachsenes Dickicht. Hier inmitten der Ulmen fielen unaufhörlichdie Blätter zu Boden. Fellwroth machte ein finsteres Gesicht, ohne ein erneutes Signal würde seine momentane Suche außer herbstlichem Laub nichts zutage fördern.
Als er vor ein paar Stunden versucht hatte, Nicodemus zu überreden, hatten sie sich auf dem Weg nach Gray’s Crossing befunden. War es ihm gelungen, den Jungen zu überzeugen? Eher nicht. Wenn Nicodemus sich ihm hätte ausliefern wollen, wäre der Welpe mittlerweile schon wieder zurück in Starhaven.
Fellwroth schnappte nach einem der herabfallenden Blätter und fragte sich, warum Nicodemus auf sein Angebot nicht eingegangen war. Eigentlich gab es darauf nur zwei mögliche Antworten: Entweder hatten die Todesdrohungen nicht ausgereicht, um den Jungen zur Aufgabe zu zwingen, oder der Welpe fühlte sich zu sicher im Schutze eines Protektors, der sogar in der Lage war, die Signale des Keloids zu blockieren.
Ärgerlich zerrieb Fellwroth das Blatt zwischen den Fingern und überlegte, wer Nicodemus nur verbergen mochte. Keine Gottheit jedenfalls, denn die Nähe einer göttlichen Erscheinung hätte er inzwischen gespürt. Dieses Druidenmädchen allein konnte es auch nicht sein. Vielleicht spielte es aber auch gar keine Rolle, wer Nicodemus versteckte. Er musste dem Jungen mit mehr als nur dem Tod drohen.
Er sah hinüber nach Starhaven. Die dunklen Ulmen versperrten ihm die Sicht, nur der Erasmusturm ragte stolz hervor. Über seine bleichen Lippen huschte ein Lächeln; er hatte einen neuen Plan gefasst. Diesmal würde er seinen richtigen Körper brauchen, und die Vorbereitungen würden einen Tag in Anspruch nehmen. Aber dafür war sein Plan perfekt.
Die Blätter fielen jetzt schneller. Fellwroth lachte hellauf. Es gab mindestens eine Sache, an der Nicodemus mehr hing als am eigenen Leben.
»Ihr habt ihm Zugang zum Index gewährt?«, zeterte Amadi.
Shannon verharrte ruhig auf der Pritsche in seiner Zelle. Um seinen Kopf hatten die Wächter ein magisches Netz geknüpft, dass ihn von jeglicher Magie abschnitt. Deshalb war er jetzt vollkommen blind.
Trotz seiner großen Erschöpfung blieb der alte Zauberer äußerlich ganz gelassen. »Ohne meinen Golemgegenzauber wäre Nicodemus vollkommen hilflos.«
»Magister, selbst der Provost hält Nicodemus für den Unglückboten, den Meister der chaotischen Sprache. Ich will nichts mehr von Eurem Ton …«
Shannon lehnte sich vor. Zwar war er an Händen und Füßen mit dichter Prosa an die Wand gekettet, doch boten ihm
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