Nicodemus
Göttin hat mit Hilfe der Ursprache unsere Körper den Worten angeglichen. Unsere Haut wurde weich und bildsam für Pithan und Wrixlan; wir schrieben immer mehr in unseren linken Arm und benötigten dadurch auch mehr und mehr Haut.«
Der Geist deutete auf seine Palette, bevor er weiterschrieb. »Durch Chimäras Ursprache bildete sich unser linker Arm zu einer Palette aus. Nun wisst Ihr auch, warum unsere Vorfahren einander für missgestaltet hielten. Ein zweiarmiger Chthone ist ungefähr so schrecklich wie ein dreiarmiger Mensch.«
Nicodemus konnte ihm nur zustimmen.
Tulki blickte zum Himmel auf, dann warf er Nicodemus schnell zwei Sätze zu: »Der Tag bricht bald an. Wir müssen unter die Erde.« Mit diesen Worten zog er sich noch weiter in die Trümmer zurück.
Nicodemus folgte ihm so gut es ging. »Wenn Wrixlan also eine eugraphische Sprache ist, kann es mich dann auch von meiner Kakographie in den Zaubersprachen heilen?«
Ohne das Tempo zu drosseln, warf ihm Tulki eine Antwort über die Schulter zu. »Nein, aber ich verstehe nicht, was es da überhaupt zu ›heilen‹ gibt, wie Ihr Euch ausdrückt.«
Bis Nicodemus die Antwort gelesen hatte, war Tulki schon in einemaltertümlichen Bauwerk verschwunden, dessen Dach zum großen Teil noch erhalten war. Nicodemus ging hinterher und stellte fest, dass im Inneren eine schmale Treppe hinab ins Dunkel führte.
Von dem Geist ging ein sanftes blauviolettes Licht aus. »Seht Euch vor mit Euren großen Füßen«, warnte er mit einem Kurzzauber und glitt die Treppe hinab. » Wir hoffen, dass Ihr bei uns bleibt und unseren Kodex im Laufe der Zeit noch oft auffrischen werdet. Um Euch vor dem Golem zu verstecken, müsst Ihr tagsüber unter der Erde bleiben.«
»Warum?«, fragte Nicodemus, der mit den schmalen Stufen kämpfte.
»Weil Wrixlan im hellen Licht, besonders bei Tageslicht, zerfällt. Eure Vorfahren haben das ausgenutzt, um uns abzuschlachten. Nachts sind unsere Zaubersprüche so stark wie andere Texte, doch bei Tag waren wir ihnen schutzlos ausgeliefert. Wir fürchteten damals jeden neuen Morgen, der noch mehr blutrünstige Legionäre brachte.«
Sie hatten das Ende der Treppe erreicht und standen nun in einem rechteckigen Raum mit niedriger Decke und nackten Steinwänden. »Eigentlich müsstet Ihr mich hassen«, flüsterte Nicodemus.
Tulki lächelte. »Ganz im Gegenteil, Nicodemus Weal. Wenn Ihr unsere Texte erneuert, dann werdet Ihr einer der wenigen Menschen sein, die ich jemals gemocht habe.«
Kapitel 35
Der Geist deutete auf ein steinernes Kästchen. »Darin befindet sich unser Spektralkodex.«
Nicodemus schob den Deckel beiseite und entdeckte auf dem Grund ein Buch, das dem Index bis aufs Haar glich.
Neben Nicodemus’ Hand leuchtete eine Botschaft von Tulki auf. »Ihr braucht bloß Eure Handfläche auf eine der Seiten zu legen. Es mag Euch verwirren. Stunden mögen vergehen, ohne dass Ihr es wahrnehmt. Vielleicht seht Ihr Bilder aus unserer Vergangenheit – der Kodex ist zugleich die Geschichte unseres Volkes.«
Nicodemus sah zu dem Geist auf. »Wird mir davon übel?« Als Tulki ihn verständnislos ansah, erklärte er ihm, dass er sich übergeben musste, nachdem er den Index das erste Mal berührt hatte.
Der Geist schüttelte den Kopf. »Das lag nur daran, dass Euch der Index Wrixlan eingetrichtert hat. So wird es diesmal nicht sein. Der Index ist ein Foliant, dieses Buch dagegen ist bloß ein Kodex. Allerdings muss ich, sobald es hell wird, auf seine Seiten zurückkehren. Tagsüber drücken wir Wrixlan-Geister uns nicht ohne ein Schriftstück aus. Die Gefahr, entdeckt zu werden, ist einfach zu groß.«
Nicodemus ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. »Vielleicht könntet Ihr mir noch eine Sache erklären, bevor ich mich an die Arbeit mache. Ihr habt eine Ursprache erwähnt.«
Tulkin schrieb mehrere Zeilen, kratzte sich am Kinn und änderte den Text.
Nicodemus bemühte sich, nicht ungeduldig zu werden.
Als er mit seiner Antwort fertig war, hielt Tulki sie ihm hin und sah dabei direkt in seine Augen. »Der andere Kakograph, der vor so langer Zeit hier gewesen ist, hatte dieselbe Frage gestellt. Aber ich kann deine Neugier nicht stillen. Ich weiß nur, dass die Ursprache die Körper unsererVorfahren verändert hat, und dass es diese Ursprache ist, die unsere lebendigen Bücher am Leben hält. Mehr weiß ich auch nicht. Diese Ursprache könnte man nur mit Hilfe eines Bestiariums erlernen, und zu Lebzeiten war es nur den Hohepriesterinnen
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