Nicodemus
Gefahr besteht, dann darfst du auf keinen Fall …«
»Doch, Magister«, fiel John ihm ins Wort. »Er muss sogar.«
Tulki geleitete Nicodemus zu der mit Wein bewachsenen Kathedrale. Die dicken braunen Blätter regten sich kaum im Wind. Mit Schrecken stellte Nicodemus fest, dass es gar keine Blätter waren, sondern Ledermedaillons.
Ein Vorhang öffnete sich in diesem seltsamen Blattwerk und gab den Blick auf einen winzigen Eingang frei. »Ich bitte Euch noch einmal« , schrieb Tulki. »Überdenkt Eure Entscheidung.«
Nicodemus zog den Kopf ein und trat in den kleinen, dunklen Raum. »Das kann ich nicht«, sagte er.
Mattes bernsteinfarbenes Licht in Form eines Rechtecks schimmerte in der Dunkelheit. Als Nicodemus vorsichtig weiter hineinging, erkannte er im heller werdenden Licht, dass er sich nicht in einem gemauerten Zimmer, sondern in einer Laube aus ledrigem Wein befand. Die dicken Stämme und Blätter hatten sich um die zerbröckelnden Mauern zu einem zeltähnlichen Dach gewunden.
Der Boden war uneben. Bei genauerer Betrachtung erkannte Nicodemus, dass er aus Tausenden von Wurzeln bestand. Alle liefen in der Mitte zusammen und vereinten sich zu einer Art Baumstumpf – einer Art , denn in zwei Fuß Höhe spross ein gewaltiger Kodex aus ihm hervor. Das Buch war in braunes Leder gebunden, das die Textur von Eschenrinde hatte, und wurde von einer Schließe aus geflochtenen Zweigen zusammengehalten. Aus den Seiten strömte ein diffuses, goldbraunes Licht.
Als Shannon, John und Deidre eintraten, konnte man das Geräusch ihrer Schritte in der Laube überdeutlich hören.
Tulki überreichte Nicodemus eine Notiz: »Bewegt Euch behutsam.«
Je näher Nicodemus dem Bestiarium kam, desto intensiver begann es zu leuchten. Lautlos öffnete sich die viereckige Schließe, und das Buch klappte quietschend auf. Bernsteinfarbene Strahlen schossen aus den vergilbten Seiten empor, während der Buchrücken Funken sprühte.
»Sieh dich vor, Nico«, mahnte John. Auch Shannon sagte noch irgendetwas zu ihm, doch das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass er es nicht verstand. Nun presste er seine Hand gegen eine der warmen, glänzenden Seiten des Buches.
Nichts geschah. Nicodemus hielt die Luft an und erwartete, wie damals beim Index jeden Moment hinauf in den Nachthimmel gerissen zu werden.
Aber nichts dergleichen geschah. »Ich weiß auch nicht …«, begann er, als sich plötzlich der Boden unter ihm auftat.
Gellend stürzte er ins Dunkel.
Kapitel 40
Nicodemus fiel in die Seiten des Bestiariums. Warmes, dünnflüssiges Öl stieg ihm in den Mund. Er würgte und atmete die glitschige Schwärze ein. Er ertrank. Panisch schlug er mit den Armen um sich. Doch es gelang ihm nicht, seinen Geist von dem Buch zu lösen.
Die Flüssigkeit um ihn herum wurde immer zäher. Mit aller Gewalt pumpte Nicodemus das Öl aus den Lungen und versuchte verzweifelt nicht einzuatmen. Aber schon bald war er gezwungen, das dünne Öl wieder einzusaugen.
Allmählich hörte er auf zu zappeln. Er ertrank nicht, sondern atmete das Dunkel ein. Umflutet von seinem langen Haar glitt er schwerelos dahin.
Ganz in der Nähe schwamm etwas, es wirbelte kräftige Wellen auf. »Noch so ein fehlerbehaftetes Kind. Eine zweite Chance?«, fragte eine schroffe weibliche Stimme.
Nicodemus’ Herz setzte einen Schlag aus. »Wer seid Ihr?« Es überraschte ihn, dass er in diesem flüssigen Dunkel sprechen konnte.
Das Wesen antwortete ihm mit einem Lachen, das an das Schnurren einer Katze erinnerte. Ihm war, als würde es ihn einschließen.
Nicodemus fuhr herum, um auszumachen, womit er es zu tun hatte. »Ich bin hier, um Primus zu lernen. Und etwas über den zu erfahren, der vor mir hier gewesen ist.«
Wieder erklang das katzenhafte Lachen. »Ich weiß, wonach Ihr sucht, Nicodemus Weal. Solange Ihr Euch in diesem Folianten aufhaltet, ist Euer Wissen auch mein Wissen.«
Er streckte die Hand nach der Stimme aus. »Wer seid Ihr?«
Etwas Glitschiges glitt ihm über den Kopf, doch noch ehe er danach fassen konnte, war es schon vorbeigezogen.
»Ich bin die Bestie, das Bestiarium; der Fragenschrauber, der Wortklauber, das Gericht vor dem Gesetz, der Wille vor dem Weg. Der Abglanz der Chimäre, einst Göttin der chimärischen Völker.«
»Seid Ihr ein Zauber?«
Die Antwort war ein kehliges Lachen. »Ihr könnt mich Zauber nennen. Oder auch den Bruchteil einer Seele. Als ich noch eins mit mir war, habe ich dieses Buch zu meiner Avatara gemacht und Teile meiner
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